Sonntag, 13. Dezember 2015

Fall 50:Wadenschmerz - Nicht immer Durchblutungsstörungen Teil I

Als Notfall wurde der78-jährige Arno K. in der Ambulanz vorgestellt. Der rüstige Rentner gab an, seit 6 Monaten zunehmend schlechter laufen zu können. Seine Gehstrecke hätte sich auf  300 Meter reduziert. Er bekomme Schmerzen in den Waden, die erst nach einer längeren Pause wieder nachließen. Seine Beine fühlten sich dann schwer an und würden brennen.

Eigenanamnese:
Es besteht ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus seit 8 Jahren. Bekannter Hypertonus. Z.n. Leistenbruch OP vor 5 Jahre, Appendektomie als Kind. Kein Kontrollverlust über Blasen- und Mastdarmfunktion. An den Armen wären vor zwei Wochen Kribbelparästhesien aufgetreten. Keine periphere Schwäche, Gewichtsverlust oder B-Symptomatik.

Befund:
Bei der körperlichen Untersuchung fanden sich an den oberen Extremitäten keinerlei sensiblen oder motorischen Einschränkungen. Keine Varicosis, keine tophischen Störungen. Die Muskeleigenreflexe waren normal. Peripherer Pulsstatus mit gut palpaben Fußpulsen. An den unteren Extremitäten unerschöpflicher Klonus des Achillessehnenreflexes bei passiver Dorsiflexion im OSG. Sensibilität und Kraft waren erhalten.

Dopplersonografisch sind die peripheren und Leistenpulse gut darstellbar.



Was vermuten Sie?

Fall 50: Wadenschmerzen - Nicht immer Durchblutungsstörungen II

Cave! Wegen der Dysäthesien in den Armen denken Sie auch an eine cervicale Myelopathie:



Radiologisch fanden sich degenerative Veränderungen der HWS. Das Labor mit Entzündungszeichen und die übrigen Parameterlagen im Normbereich. Wegen der auffallenden neurologischen Störung wurde ein MRT der ganzen Wirbelsäule angeschlossen.


Der Befund war überraschend. Es zeigte sich eine cystische und umschriebene Raumforderung in Höhe des 4.Halswirbels. In den axialen Aufnahmen projizierte sie sich in den posterolaterlen Spinalkanal. Sie hatte Bezug zu den Facettengelenken, so dass von einer Gelenkcyste ausgegangen werden konnte.

Die Kompression des Rückenmarks im zervikalen Spinalkanal ist die häufigste Myelopathie des höheren Lebensalters. Sie ist durch eine Einengung des Halsmarks im Spinalkanal gekennzeichnet. Typischerweise besteht eine konstitutionelle Prädisposition in Form eines engen Spinalkanals. Erworbene Faktoren können hinzutreten und das Auftreten einer Myelopathie fördern. Am häufigsten sind degenerative spondylotische Veränderungen, die bereits ab der 2.Lebendekade beginnen.

Leitsymptom ist eine langsam zunehmende spastische Gangstörung, kombiniert mit sensiblen Störungen an den Beinen. Die Symptome sind häufig auch mit Nervenwurzelkompressions-syndromen kombiniert. Dann finden sich auch Sensibilitätsstörungen oder motorische Beeinträchtigungen der Arme.

Die Diagnostik beginnt mit einem nativen Röntgenbild der HWS. Hier können bereits degenerative Veränderungen deutlich werden und die Weite des Spinalkanales abgeschätzt werden. Veränderungen und klinische Symptome korrelieren jedoch nicht.

Zur Beurteilung des Spinalkanales, insbesondere in der unteren HWS, ist das MRT vorteilhaft. Einengende bindegewebige oder knöcherne Umgebungsstrukturen oder die Atrophie des Rückenmarkes lassen sich zuverlässig darstellen. Weitere Untersuchungen können ein Myelo-CT oder ein EMG in Kombination mit somatosensibel evozierten Potenzialen sein.

Das alleinige Vorhandensein eines engen Spinalkanales ohne neurologische Symptome bedeutet noch nicht die Diagnose der Myelopathie und erfordert keine weiteren Interventionen. Erst bei Beschwerden ist Vorsicht geboten. Der Verlauf ist dann chronisch und selten akut. Das Tempo und Ausmaß sind von der jeweiligen Grunderkrankung abhängig und sehr variabel. Dies beeinflusst auch neben dem Alter des Patienten und dem Allgemeinzustand die Prognose und die Indikation für das jeweilige Vorgehen.

Treten neurologische Ausfälle auf, die rasch progredient sind, ist die OP indiziert. Als Operationsmethode stehen je nach Ausdehnung der spinalen Stenose verschiedene operative Verfahren zur Verfügung. Bei kurzen Stenosen, die sich über ein oder zwei Segmente erstrecken, bietet sich ein anteriorer Zugang an. Längerstreckige Veränderungen werden von posterior angegangen. Sie bieten den Vorteil der zusätzlichen Erweiterungsmöglichkeiten.

Die postoperative Erfolgsrate in den ersten 6 Monaten beträgt 50 bis 75%. Langfristig treten bei jeweils einem Drittel eine Verbesserung, eine Stabilisierung auf präoperativem Niveau oder keine Verbesserung ein. Für die Prognose entscheidend ist die Dauer und das Ausmaß der Halsmarkschädigung. Die Komplikationsrate beträgt 2 bis 7%.