Montag, 25. Januar 2021

Fall 71: Der ungewöhnliche Bauchschmerz bei einer 15-jährigen (Diagnose)

siehe dazu die Vorgeschichte:

http://notfallambulanz.blogspot.com/2021/01/fall-71-der-ungewohnliche-bauchschmerz.html


Diagnose:

Hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS)

Das hämolytisch-urämische Syndrom ist charakterisiert durch eine hämolytische Anämie, Thrombozytopenie und eine akute Niereninsuffizienz. Diese Erkrankung ist weltweit aber mit deutlich unterschiedlichen Häufigkeiten bekannt. Die Inzidenz wird in Mitteleuropa auf 1 bis 1,5 Patienten/100 000 Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren geschätzt. Sie bevorzugt Kinder im Alter von ein bis fünf Jahren aber auch jedes andere Alter mit einem Altersgipfel im zweiten bis dritten Lebensjahr (82425). In Deutschland gilt das HUS die häufigste Ursache eines akuten Nierenversagens im Kindesalter (22).

Das HUS ist ein Syndrom im klassischen Sinne. Mittlerweile ist es akzeptiert, dass es verschiedene Ursachen für ein HUS gibt. Eine einheitliche Nomenklatur gibt es jedoch noch nicht. Derzeit werden mindestens vier verschiedene pathogenetische Formenkreise der Entstehung eines HUS unterschieden 

- HUS bei Infektionen, z.B. durch Bakterientoxine (E. coli, Shigellen, Salmonellen),  Pneumokokkenneuraminidase und Viren. Bei Erkrankungen, die initial mit Durchfall einhergehen, wird auch der Begriff typisches HUS (D+) verwandt. Da die überwiegende Mehrzahl der HUS-Fälle im Kindesalter mit enterohämorrhagischen Escherichia coli (EHEC) assoziiert ist, wird auch als synonym für diese Form das Shigatoxin-assoziierte HUS verwendet (231416).

- Idiopathisches HUS (atypisches HUS): Werden bei den Patienten keine Hinweise auf EHEC gefunden, so ist oft mit einer Rekurrenz der Erkrankung zu rechnen. Hierbei ist die dauernde Aktivierung des Komplementsystems ein wichtiger pathogenetischer Hinweis (101920). In wenigen, oft familiären, Fällen scheint eine Störung des Faktors H eine Rolle zu spielen (27). Dieser Faktor gehört zu einer Gruppe von Proteinen die für die Regulation des Komplementsystems verantwortlich sind. Insbesondere auf lokaler Ebene ist Faktor H für die Inhibierung des Komplementsystems notwendig. Kommt es zu angeborenen oder erworbenen Störungen des Faktors H, bleibt eine Komplementaktivierung ungebremst, und es kommt zu Parenchymschäden wahrscheinlich durch die Persistenz der C3-abhängigen Kaskade des alternativen Komplementweges (1920). In seltenen Fällen gibt es auch hereditäre Formen des HUS, die sowohl autosomal dominant, als auch autosomal rezessiv vererbt werden können (10202439).

- HUS bei systemischen Erkrankungen: Diese stehen im Zusammenhang mit malignen Erkrankungen, systemischem Lupus erythematodes, Knochenmarktransplantation, Glomerulonephritis und treten nach Schwangerschaften im Wochenbett auf (25).

- HUS durch Toxinexposition: Verschiedene Substanzen wie Ciclosporin A, Tacrolimus, Mitomycin, Kontrazeptiva und Kokain können eine Erkrankung auslösen. Sie kann auch durch eine Bestrahlung verursacht werden.

Die häufigste Ursache für ein HUS im Kindesalter jedoch ist eine Infektion mit EHEC (2613–16232629) durch kontaminierte Lebensmittel, direkter Tierkontakt sowie die Übertragung von Mensch zu Mensch. Innerhalb der Gruppe der EHEC werden zunehmend neue Serotypen gefunden, beziehungsweise bisher nicht virulente Bakterien werden virulent. Eine ausführliche Beschreibung der EHEC haben Karch und Bockemühl veröffentlicht (31537).
- Seit 1998 und auch nach dem neuen Infektionsschutzgesetz (IfSG) sind sowohl das enteropathische HUS als auch Infektionen mit EHEC meldepflichtig nach IfSG § 6 Absatz 1f und § 7 Absatz 12a.

Epidemiologie des HUS

Das HUS tritt weltweit auf. In Europa ist die Häufigkeit von Norden nach Süden unterschiedlich: In Deutschland wird eine Inzidenz von 0,7 bis 1,0 pro 100 000 Kinder unter 15 Jahre gefunden. Das Verteilungsmuster der Bundesländer für die Jahre 1997/1998 in den nördlichen Regionen um Hamburg weist eine relative Häufung auf. Alle anderen Bundesländer zeigen keine auffälligen Verteilungen. Es ist also für Deutschland davon auszugehen, dass das HUS überall vorkommen kann. Bei den EHEC-assoziierten HUS-Patienten liegt der Erkrankungsgipfel zudem in den Sommermonaten. Besonders in den Monaten Juli bis September ist ein erhöhtes Erkrankungsrisiko vorhanden.

Innerhalb einer prospektiven Untersuchung wurde in Deutschland und Österreich versucht, mögliche Infektionsquellen zu erfassen. Aufgrund methodischer Probleme und der oft langen Latenz zwischen Kontakt mit einem Infektionserreger und der Diagnose einer EHEC-Infektion beziehungsweise HUS kann in den meisten Fällen der Verursacher nicht gefunden werden (13143137).

Das Verteilungsmuster des HUS zeigt eine Häufung vom ersten bis fünften Lebensjahr mit einem Häufigkeitsgipfel bei etwa drei Jahren. Eine weitere Besonderheit ist die Tatsache, dass Patienten unter vier Jahren häufiger an Non-O157-Erregern erkranken als ältere Kinder. Aus verschiedenen Ausbruchsuntersuchungen wird klar, dass neben den Kleinkindern auch ältere Leute, besonders solche die in Heimen leben, wieder häufiger erkranken (24). Eine Ursache oder Erklärung hierfür ist bisher nicht bekannt. Im Falle der Kleinkinder wird allerdings vermutet, dass die in diesem Alter noch nicht vorhandene Hygiene dazu führt, dass bei Schmierinfektionen eine höhere Bakterienmenge ingestiert wird und damit eine höhere Erregerbelastung vorhanden ist. Ein Beweis für diese Vermutung existiert aber bisher nicht.

Diagnostik
Das klassische Leitsymptom einer Erkrankung des infektionsassoziierten HUS mit EHEC-Nachweis ist ein blutiger Durchfall. Es vergehen etwa drei Tage (Bereich: 1 bis 8 Tage) zwischen Infektion und Ausbruch der Diarrhö. Nach Beginn der Diarrhö ist das Auftreten eines HUS im Mittel in vier Tagen zu erwarten (Bereich: 1 bis 12 Tage).

Die Diagnose wird anhand der charakteristischen Symptome gesichert: hämolytische Anämie mit Erhöhung von LDH und Auftauchen von Fragmentozyten im Blutausstrich, Thrombopenie und Anstieg der Retentionswerte beziehungsweise Auftreten von Oligo- oder Anurie.

Komplikationen bei HUS sind eine arterielle Hypertonie, Überwässerung mit Aszites und Perikarderguss, Krampfanfälle, neurologische, kardiale und pulmonale Beteiligungen.


Die primäre bildgebende Diagnostik erstreckt sich auf eine sonographische Untersuchung der Nieren. Im B-Bild erscheinen die Nieren mit deutlich erhöhter Echogenität im Bereich der Nierenrinde und echoarmen Markkegeln. Die Nieren sind deutlich vergrößert, und das Volumen hat meist über die altersentsprechende 97% Perzentile zugenommen. Im Farbduplex zeigen sich oft auch Muster wie sie bei einer Nierenvenenthrombose angetroffen werden, mit deutlich erhöhtem intrarenaler Widerstandserhöhung bis hin zu negativem diastolischen Fluss in der Diastole. Eine Unterscheidung ist hierbei oft nur durch die Klinik mit Nachweis von Fragmentozyten und dem weiteren Verlauf möglich. Assoziierte Auffälligkeiten im Abdomen können in einem Aszites, Gallenblasenhydrops und verdickten Darmwandstrukturen liegen.

Therapie
Da bisher keine spezifischen Therapieformen routinemäßig zur Verfügung stehen, ist die derzeitige Therapie symptomatisch
. Dazu zählt auch die Dialyse.