Sonntag, 26. Mai 2024

Fall 84: Die Zementverbrennung


Fall 85: Die Zementverbrennung

Ein 72-jähriger Mann stellte sich in der Zentralen Notaufnahme dar. Vor 3 Wochen habe er bei Renovierungsarbeiten seinem Sohn geholfen, ein Fundament zu gießen. Dabei wäre ihm flüssiger Beton in den Gummistiefel geflossen. Er habe es erst bemerkt, als der Beton im Stiefel heiß wurde. Er habe daraufhin den Stiefel und die Haose ausgezogen. Sein Unterschenkel und Fuß wären gerötet gewesen. Die Rötung habe er kurz mit wasser abgekühlt, konnte danach jedoch nach einem Wäschewechsel weiter arbeiten. In den nächsten Tagen habe er wenig auf die Rötung geachtet. Die Verfärbung bis zum jetzigen Ausmaß habe er wohl ignoriert. Einem Arzt wurde die Verletzung nciht vorgestellt.

Der Patient ist bis dato rüstig und zusammen mit seiner Frau selbständig. An Vorerkrankung besteht eine KHK. Fumatorium von 20 Zigaretten pro Tag seit der Jugend und ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus mit bekannter diabetischer Polyneuropathie.

Befund:

Der linke Unterschenkel und der Fuß stellen sich wie folgt dar: ausgedehnte tiefgreifende zirkuläre und medial betonte Nekrosenbildung im distalen Unterschenkel und des gesamten Fußrückens mit Mumifizierung der gesamten Zehen.


Zur Therapieplanung wurde zunächst ein Angio CT durchgeführt. Hier zeigte sich eine massive Sklerosierung unterhalb der Trifurkation mit langstreckigen Stenosen und vollständiger Okklusion ab Unterschenkelmitte.

Therapie:

Die Aufnahme erfolgte unter dem Versuch des Weichteildebridements. Entsprechend dem CT Befund stellten sich bei insgesamt atrophischem Weichteilmantel tiefgreifende Nekrosen dar. Ein Debridement selbst mit nachfolgender Vakuumtherapie und zweizeitiger Weichteildeckung erschien hier nicht mehr möglich. Es erfolgte die Unterschenkelamputation.

Diskussion:

Bei der Herstellung von Beton wird oft Zement verwendet. Zement enthält Kalziumoxid, Siliziumdioxid, Aluminiumoxid, Eisenoxid und Sulfat. Calciumoxid reagiert mit Wasser unter Erwärmung zu Calciumsilikathydrat (CSH). Allgemein können im Beton während des Aushärtungsprozesses Temperatur von etwa 50 bis 70 Grad Celsius entstehen, die sog. Hydratationswärme. Zudem induziert die chemische Reaktion einen alkalischen pH-Wert. Dies kann zu weiteren Gewebeschäden führen, indem Proteine und Kollagen aufgelöst, Zellen dehydriert und Fett verseift werden. Beide Faktoren, Hitze und eine alkalische Umgebung, können zu Verletzungen führen, die als „Zementverbrennungen“ bezeichnet werden.

Im Jahr 1995 erstellten Xiao und Cai eine Klassifizierung von Zementverbrennungen unter Berücksichtigung des Mechanismus der Zementverletzung auf der Haut (Xiao 1995)[1]. Drei Arten von Verbrennungen können durch Zement verursacht werden: durch Abrieb, Explosion oder Hitze (Spoo 2001)[2]::

        Abschürfungsverbrennungen sind am häufigsten und betreffen i.d.R. Knie und Unterschenkel mit weniger als 5 % der Hautoberfläche (Spoo 2001).

        Explosionsverbrennungen sind selten, aber schwerwiegend und führen zu systemischen Schäden (Xiao 1993)[3].

        Hitzeverbrennungen werden durch thermische Schäden erklärt, einen chemischen Prozess, der die Produktion alkalischer Substanzen mit zerstörerischen Auswirkungen auf die Haut induziert (Catalano 2013)[4].

Die Verletzungen sind relativ selten. Selbst in spezialisierten plastischen Abteilungen liegt ihr Anteil bei nur 1 bis 2% (Lewis 2004)[5]. Zu fast 80% sind Heimwerker betroffen, von denen weniger als 50% eine Schutzausrüstung tragene oder sich des Verletzungsrisikos nicht bewußt sind (Rycroft 1980[6], Besset 2014[7], Spoo 2001). Die meisten Verletzungen treten an Unterschenkel und Knie auf. In allen Fällen werden weniger als 10 % der Hautoberfläche betroffen. Vollschichtige Verbrennungen werden in 50 bis 66 % der Fälle beschrieben, wobei in 20 bis 34 % der Fälle eine Operation erforderlich war.

Im Jahr 1963 wurde von Rowe (1963)[8] der erste Fall einer Schienbeinverbrennung dritten Grades beschrieben. Ihr Patient hatte 2 1/2 Stunden lang in Fertigzement gekniet. Eine ähnliche Verletzung wurde später von Vickers (1976)[9] bei zwei Patienten beschrieben, die mehrere Stunden mit nassem Zement in ihren Stiefeln verbrachten. Weitere nachfolgende Berichte fanden das gleiche Verletzungsmuster. Gemeinsam war ihnen eine lange Einwirkzeit mit nassem Zement, im Allgemeinen 2 bis 6 Stunden (Fisher 1979[10], Hannuksela 1979[11], Buckley 1982[12]).

Wenn nasser Zement mit der Haut in Kontakt kommt, treten oft keine unmittelbaren Symptome auf. Das kann dazu führen kann, dass der Arbeiter den Kontakt aufrechterhält. Der sich ausbildende Gewebeschaden ist dann abhängig von der Temperatur und der Einwirkdauer. Bereits ab 40 bis 44°C kann Körpereiweiß in Zellen denaturieren, ab 45°C und einer Einwirkzeit von etwa einer Stunde tritt der Zelltod ein. Ab 70°C reicht schon eine Exposition von einer bis zwei Sekunden für eine Verbrennung dritten Grades.

Die Besonderheit bei thermischen Verletzungen ist, dass das Ausmaß nicht sofort erkennbar sein muss. Dies liegt an dem Ausbilden einer sog. "Stasezone". Sie bezeichnet eine schmale Zone thermisch geschädigter Hautzellen, die in eine Komplettnekrose übergehen können, was als "Nachbrennen" bezeichnet wird. Ursache ist eine gestörte Mikrozirkulation durch eine Verkleinerung der Blutgefäße, eine Ödembildung und eine nachfolgende Minderperfusion. So kann die oberflächliche Verbrennung Typ 2a mit Blasenbildung in eine tiefe zweitgradige Combustio Grad IIb übergehen. Dies bedeutet für den Patienten eine erweiterte Therapie (Koller)[13].

Daher ist es essentiell, dass Zement umgehend von der Haut entfernt und mit reichlich Wasser abgewaschen wird. Der betroffene Abschnitt sollte dann sorgfältig nachbeobachtet und bei Rötung, Blasen- oder Nekrosenbildung adäquat chirurgisch betreut werden.

Die Therapie ab einem thermischen Schaden Grad 2b besteht in der chirurgischen Sanierung. Sie muss in das Gesamtkonzept eingepasst werden. Da thermische Schäden ab Grad III häufig Teil einer größeren Gesamtverletzung darstellen können, müssen diese mitberücksichtigt werden. Grundlage der chirurgischen Versorgung ist die Nekrosektomie gefolgt von einer Weichteildeckung, i.d.R. eine Spalthautdeckung. Je nach Befund erfolgt die definitive Wunddeckung bei sauberem Wundgrund. Hierfür steht die temporärer Vakuumtherapie zur Verfügung, die für den Patienten die belastenden Verbandswechsel reduziert und zu einer Granulation des Wundgrundes führen kann.

Das ästhetische und funktionelle Ergebnis nach der Behandlung kann einschränkend sein. Besset (2014)[14] fand bei 88 % der medikamentös behandelten Patienten und bei 18 % der operativ behandelten Patienten Folgeerscheinungen.

Bei unserem Patenten wäre eine Entfernung der Nekrosen nicht zielführend gewesen. Dazu waren sie in der Peripherie zu weit fortgeschritten und ein Erhalt oder ein Teilerhalt durch Amputation bei fehlender Perfusion nicht möglich gewesen. Die distale Polyneuropathie hat sicherlich dazu beigetragen, dass die thermische Reaktion zu spät bemerkt worden ist. Dadurch konnte sich die Schädigung tiefgreifend ausbilden.

Fazit:

Im Umgang mit Zement muss auf dessen potentielle Gefahrenwirkung geachtet werden. Neben einem probaten Schutz gilt es, jeden Hautkontakt zu vermeiden und im Falle einer Exposition sofort zu durchbrechen und unter Beobachtung zu halten. Damit kann eine Intervention frühzeitig eingeleitet werden, um weiteren Schaden zu vermeiden.


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