Mittwoch, 8. Januar 2014

Van Gogh: Vom Pinsellecken zur Bleivergiftung

Die exzentrische Persönlichkeit Vincent van Goghs (1853–1890) ist Legende und Anlass für dutzende Postmortem-Diagnosen. Eines scheint dabei außer Acht geblieben zu sein: van Goghs erhebliche Bleibelastung.
Nicht, dass man sich im 19. Jahrhundert nicht auch ungewollt eine Bleivergiftung zuziehen konnte. Das Schwermetall fand sich überall im täglichen Leben: Wein wurde mit Bleiweiß und Bleizucker geschönt, Blei war Bestandteil von Farben, Arzneimitteln, Tabak, Kohlestaub, von Wasser aus Bleirohren und anderem mehr. Vincent van Gogh tat jedoch etwas, was ihm zusätzlich schadete: Er aß Blei.

Er tat das bewusst, indem er die von ihm verwendeten bleihaltigen Farben aufnahm, etwa indem er die Pinselborsten mit den Lippen anspitzte oder mit Farbe überzogenen Pinsel am Stiel im Mund hielt. Er leckte seine farbverschmierten Hände ab. Und er trank Lampenöl. Das sei durch Zeitzeugen bestätigt, so Dr. Edward Weissman, Dozent für Innere Medizin an der University of Virginia, USA.
Weissman wundert sich darüber, dass mehr als 150 Ärzte, die sich im Laufe der Zeit mit der Pathografie van Goghs auseinandergesetzt haben, dessen Symptome auf fast 30 verschiedene, vor allem neurologisch-psychiatrische Diagnosen zurückgeführt haben. Übersehen haben sie nach Auffassung des Internisten jedoch, dass all die bekannt gewordenen Krankheitszeichen des Malers sich gut mit einer chronischen Bleiintoxikation und einer sich daraus entwickelnden Enzephalopathie erklären ließen. Diese würden manche psychopathologischen Erscheinungen bei van Gogh und schließlich auch den (angeblichen) Suizid begreiflich machen.

Freilich war van Gogh durch seine unglückliche Kindheit psychisch vorbelastet. Ein Jahr vor seiner Geburt war der Erstgeborene seiner Eltern, der Vater war Pfarrer, verstorben. Der tote Bruder trug ebenfalls den Vornamen Vincent. Als Kind musste van Gogh nach jeder Sonntagspredigt den Grabstein passieren, auf dem der gemeinsame Vorname stand. Die Mutter soll nie über den Verlust hinweg gekommen sein. Mit elf Jahren verlässt van Gogh das Elternhaus und besucht ein Internat.
Bereits als Kind galt Vincent van Gogh als Sonderling und Eigenbrötler. Beruflich scheiterte er vielfach, trotz vorhandener Intelligenz und guter Kenntnisse in vier Fremdsprachen, sei es als Kunsthändler, Lehrer oder Prediger. In einem Brief an seine künftige Frau charakterisierte sein jüngerer Bruder Theo van Gogh im Jahre 1889 den Älteren so: „Wie Du weißt, hat er seit langem mit allem, was man Konventionen nennt, gebrochen. Seine Art sich zu kleiden und seine Allüren lassen sofort erkennen, dass er ein besonderer Mensch ist, und seit Jahren sagt, wer seiner ansichtig wird: Das ist ein Verrückter.“ Theo finanzierte ihm das Leben, so gut es ging. Vincent „bezahlte“ Theo im Gegenzug mit Bildern, die sich zu Lebzeiten allerdings so gut wie nicht verkauften.
Daher hatte Vincent van Gogh nie Geld, hungerte oft, litt häufig an Symptomen der Unterernährung sowie Abdominalbeschwerden. Das hatte Auswirkungen auf sein Äußeres. Die Umgebung nahm ihn teilweise als geradezu geisterhafte Erscheinung wahr. Aus Briefen, beginnend 1882, lassen sich nach Weissmans Angaben folgende Symptome ableiten: schlechte Blutzirkulation, Depressionen und Suizidgedanken, Magenbeschwerden, Entkräftung, Fatigue, Gedächtnisprobleme, Geistesabwesenheit, Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Nervosität, Reiz- und Übererregbarkeit, ein Gefühl, dem Irrsinn nahe zu sein, Fieber, Essen von Schmutz, geringes sexuelles Interesse, Schlaflosigkeit, Alpträume, Hyperaktivität, Ohnmachten, Kälteintoleranz, Peridontitis und Zahnausfall, Schwäche der Hand und anderes mehr.

Eisenmangel durch Brot verstärkt
Van Gogh hat mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer Eisenmangelanämie gelitten, verstärkt durch den beständigen Brotkonsum: Weizenbrot enthält Phytate mit komplexbildenden Eigenschaften, die die Resorption einiger Mineralien und von Eisen unterbinden. „Viele Patienten mit Eisendefizit entwickeln ein Pica-Syndrom“, so Weissman. Bei dieser Essstörung nehmen die Patienten ungenießbare Dinge zu sich wie Abfall, Sand oder Steine. Bei van Gogh waren es Farbe und Lampenöl, die die „übliche“ Bleiingestion aus Alkoholika, aus dem Tabak (er war ein exzessiver Raucher) oder dem Einatmen von Kohlenstaub noch verstärkten. Zwar hat bereits Hippokrates Bleikoliken beschrieben. Aber selbst heute ist die klinische Diagnose einer Bleiintoxikation (Saturnismus) schwierig, da die Symptome uncharakteristisch sind, teilweise sogar fehlen.
Blei-Enzephalopathie und Radialislähmung

Blei hemmt die Hämsynthese und addierte sich bei van Gogh zur bereits bestehenden Eisenmangelanämie. Die kontinuierliche Akkumulation von Blei im Körper führte schließlich zu einer peripheren Neuropathie, wahrscheinlich mit Radialislähmung — das Halten des Pinsels wurde problematisch. Die verminderte visuell-motorische Koordination erklärt nach Weissmans Ansicht den veränderten Pinselstrich und andere Defizite, die späte Bilder van Goghs im Vergleich zu frühen Werken auszeichneten. Manche Auffälligkeiten, wie etwa die zeitweise künstlerische Hyperaktivität van Goghs oder die Neigung zu selbstverletzendem Verhalten (etwa indem er seine Hand in eine Flamme hielt, womöglich auch die bekannte Ohrverletzung), könnten ebenfalls mit der Blei-Enzephalopathie in Verbindung stehen.

Von Kindern erschossen?
Der Tod durch Bleiintoxikation kommt selten vor, ist bei Malern aber beschrieben worden (August Haake, Candido Portinari). Van Gogh ist zwei Tage nach einer Schussverletzung in die Brust gestorben. Neue Erkenntnisse haben Zweifel an einem Suizid aufkommen lassen. Womöglich handelte es sich um eine versehentliche Verletzung durch mit einer Pistole spielende Kinder. Der Maler wollte, folgt man dieser Hypothese, die Kinder decken und nahm seinen Tod billigend in Kauf.




J Med Biograph 2008, 16: 109–117; BBC News, 17.10.2011; Wikipedia (Stand 14.01.2013); Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM); Mutschler Arzneimittelwirkungen. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2008