Fall 79: Die asymptomatische Hirnblutung unter Rivaroxaban
Um 2.00 wird mit dem RTW ein
78-jähriger Mann vorgestellt. Dieser wurde blutüberströmt von seiner Ehefrau im
Bett sitzend vorgefunden. Er gab an, im Badezimmer ausgerutscht und auf den
Hinterkopf gefallen zu sein. Bewusstlosigkeit oder Commotiozeichen wurden
explizit verneint.
Eigenanamnese:
Bei dem Patienten besteht neben
einem Hypertonus eine Arrhythmie mit Vorhofflimmern. Medikamentös ist er seit 2
Jahren auf 15mg Rivaroxaban (Xarelto®) eingestellt.
Körperlicher Befund:
Bei der Aufnahme erscheint der Patient
klar und zu allen Qualitäten orientiert. Der Sturzhergang kann problemlos
angegeben werden. Neurologisch bestehen keine Defizite. Arme und Beine werden
symmetrisch bewegt und können seitengleich gegen Widerstand mobilisiert werden.
Der Patient trägt einen Druckverband am Kopf, der bereits durchblutet ist. Bei
Abnahme findet sich occipital eine 5 cm lange tiefe Platzwunde mit einer
persistierenden Wundrandblutung. Es besteht kein knöcherner Druckschmerz oder
klinisch der Verdacht einer Schädelfraktur.
Im Labor besteht ein
unauffälliges rotes Blutbild mit normwertiger klinischer Chemie. Die GFRC wird
mit 55 mL/min angegeben.
Therapie und Verlauf:
Zunächst erfolgt die
Wundversorgung, mit der die Blutung zum Stillstand gebracht werden kann. Das
EKG zeigt die (bekannte) Arrhythmie bei Vorhofflattern. Aufgrund der Einnahme
einer oralen Antikoagulation, wird ein Schädel-CT angemeldet.
Diagnose:
Chronisch subdurales Hämatom
unter Rivaroxaban
Therapie
Der Patient wird zunächst auf
die Intermediate Care Station zur weiteren Verlaufsbeobachtung aufgenommen. Er
erhält gewichtsadaptiert 30 U/kg PPSB und ein Blutdruckmonitoring mit
Zielvorgabe eines Blutdruckes unter 140mm Hg systolisch. Zusätzlich wird eine
programmierte CT Kontrolle in 6 Stunden nach Aufnahme angemeldet. Diese zeigt
einen konstanten und unveränderten Befund. Radiologisch stellt sich die Blutung
aufgrund seiner hypodensen Dichtewerte als älter dar, so dass von einem
chronischen Verlauf ausgegangen werden darf. Damit wird der Patient mit weiterhin
beschwerdefreiem Verlauf auf die Normalstation verlegt und nach 48 Stunden
symptomlos aus dem Krankenhaus entlassen.
Diskussion:
Eine intrakranielle Blutung (ICB)
beschreibt mehrere verschiedene Zustände, einschließlich hämorrhagischer
Schlaganfall und subdurales oder epidurales Hämatom, und ist durch die
extravaskuläre Ansammlung von Blut im Schädel gekennzeichnet. Das
Suduralhämatom liegt zwischen Dura und arachnoidaler Membran. Es findet sich
häufig als Folge einer Schädelverletzung mit Verletzungen der Brücken- oder
kortikalen Venen mit Einblutung in das Spatium subdurale. Als chronisch wird es
ab dem 10. Tag nach Trauma definiert.
Intracerebrale Blutungsereignisse
sind aufgrund der steigenden Zahl älterer Menschen und des zunehmenden
Gebrauchs von oralen Antikoagulanzien (OAK) und Thrombozytenaggregationshemmern
weltweit eine zunehmende Ursache für Tod und Behinderung (Qureshi 2009[1]). Die
ICB ist die schwerwiegendste
Komplikation einer oralen Antikoagulanzientherapie. Ihre Sterblichkeitsrate von über 50 % liegt dreimal
so hoch wie bei einem ischämischen Schlaganfall (Kleindorfer 2006[2]). Ihre
Inzidenz ist durch den zunehmenden Gebrauch stark steigend (Hart 1995[3]).
Seit der Einführung der neuen
Generation an nicht Vitamin K abhängigen oralen Antikoagulanzien ist die
Behandlung von arrhythmiebedingten Komplikationen, z.B. Embolie und Apoplex,
einfacher geworden. Marcumar erfordert ein kontinuierliches Monitoring, unterliegt
nahrungsabhängigen Faktoren und ist von der Compliance der Patienten abhängig. Rivaroxaban
ist ein Faktor Xa Inhibitor und braucht nur einmal täglich ohne INR Monitoring
verabreicht zu werden. Der Nutzen wird dem von Marcumar gleichgestellt. Intracerebrale
Blutungskomplikationen sollen sogar geringer sein (Patel 2011)[4]. Aus
der eigenen Erfahrung treten Blutungskomplikationen jedoch im Vergleich zu
Marcumar bei Rivaroxaban nicht nur häufiger auf sondern stellen je nach
betroffener Körperregion schwerere bis lebensbedrohliche Komplikationen dar. So
bestätigte Alberts (2012[5]) ein
erhöhtes Risiko für Magen-Darm-Blutungen im Vergleich zu Marcumar. In der
EINSTEIN Studie (2010)[6] fanden
sich bei Patienten über 65 Jahren zudem höhere Thrombose- und Blutungsraten als
bei den unter 65 Jährigen.
Rivaroxaban erfährt überdies
besondere Einschränkungen. Es ist bei Patienten mit Lebererkrankungen kontraindiziert,
die mit einer Koagulopathie verbunden sind (Graff 2013[7]). Auch
muss der Nutzen bei Patienten mit verminderter Kreatinin-Clearance kritisch
abgeschätzt werden, da sich die Eleminationszeit verlängert und damit das Blutungsrisiko erhöht (Kubitza 2010[8],
Samama 2011[9],
Hori 2013[10]).
Die empfohlene Höchstdosis ist daher abhängig von der Nierenfunktion. Bei einer
Kreatininclearance von über 50 mL/min beträgt sie 20mg und 15mg bei einer
Clearance von 15 bis 50 mL/min. Die scheinbar bessere Steuerbarkeit durch den
Wegfall der INR Kontrolle wird somit durch die Kontrolle der Nierenfunktion
ersetzt. Zusätzlich bieten sich weiterhin Gerinnungskontrollen an, da eine
Überdosierung im Labor als INR Erhöhung manifest wird. Die Gefahr einer
Blutungskomplikation scheint damit dosisabhängig zu sein (Ruff 2014[11]).
Ein anderer Aspekt sind
medikamentöse Interaktionen. Nagaraja (2019)[12]
betonte die Bedeutung arzneimittelbedingter Nebenwirkungen, die die Interaktion
mit Rivaroxaban verstärken, insbesondere Amiodaron (Amin 2016[13],
Hellwig 2013[14]),
Amlodipin (Gonzva 2015[15])
und Thrombozytenaggregationshemmer.
Die Inzidenz von
intrazerebralen Blutungen ohne Antikoagulanzien nimmt im Alter zu. Je nach Autor
variiert sie ab dem 65 Lebensjahr zwischen 0,09 und 0,65% und steigt auf 0,38
bis 0,67 bei den über 75 Jährigen (Hart 1995 und 1999[16],
Flaherty 2007[17],
Krishnamurthi 2013[18]).
Auch oder auch trotz Antikoaguklation kann es zu thrombembolischen Ereignissen
oder Blutungen kommen. Unter allen oralen Antikoagulanzien besteht bei Rivaroxaban
das höchste Risiko an intracerebralen Blutungen (Angelozzi 2015[19]). Die genaue Anzahl an Blutungskomplikationen dürfte wegen einer ungewissen Anzahl an asymptomatischen Verläufen höher liegen.
Die Komplikation einer
intracerebralen Blutung unter Rivaroxaban wurde 2014 von Lo (2014)[20] und
2015 von Ruschel (2015)[21]
und Ismail (2017[22])
als epidurale Blutung beschrieben. Fälle einer asymptomatischen spontanen
Blutung sind jedoch rar. Bei unserem Patienten war zwar eine Schädelverletzung
vorausgegangen, doch sie war offensichtlich nicht die Ursache für das subdurale
Hämatom. Dieses musste zu einem früheren Zeitpunkt entstanden und ohne
Beschwerden verlaufen sein. Die Durchsicht der Krankenakte zeigte keinen vorherigen Kontakt, so dass von einer
asymptomatischen Blutung ausgegangen werden kann.
Fazit:
Intrazerebrale Blutungen können
unter bestehender Antikoagulation auftreten und asymptomatisch verlaufen. Sie können
als Zufallsbefund beim routinemäßigen Screening, z.B. nach einer
Kopfverletzung, auffallen und bedürfen bei Beschwerdefreiheit einer Verlaufskontrolle und bei stationärem Verlauf keiner weiteren
Therapie. Die Zahl an Blutungskompikationen dürfte aufgrund asymptomatischer Vrläufe höher sein als in Studien nachgewiesen.