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Sonntag, 23. Juli 2023

Fall 80: Pseudoobstruktion des Colons (Diskussion)

 Diskussion:

Eine Obstruktion des Darms ohne ein mechanisches Hindernis kann akut oder chronisch verlaufen.  Sir Heneage Ogilvie (1948)[1] berichtete erstmals über 2 Kranke mit kolikartigen Leibschmerzen und   einer   ileusartigen   Auftreiben   des Dickdarmes.   Bei ergebnisloser radiologischer und endoskopischer Untersuchung stellte sich bei der Laparotomie eine maligne Infiltration des Plexus coeliacus ohne krankhaften Befund am Dickdarm selbst dar.  Als Erklärung führte Ogilvie ein Überwiegen der parasympathischen Impulse aus dem Plexus   sacralis an mit einem Verlust der sympathischen Einflüsse durch die maligne Infiltration. Daraus resultierte seiner Meinung nach ein segmentärer Spasmus im Bereich des Sigmas.

Heute wird mit dem Ogilvie Syndrom eine chronische Pseudoobstruktion beschrieben, bei der keine mechanische Ursache (engl.: Chronik idiopathisch intestinal pseudoobstruction (CIIP)) zugrunde liegt, sondern eine Motilitätsstörung der Darmwand bzw. eines Darmsegmentes.

Sie kann myogen durch eine Erkrankung der Darmwandmuskulatur oder neurogen durch eine Fehlfunktion der Darmnerven bedingt sein. Demzufolge unterscheidet man eine viszerale Myopathie oder viszerale Neuropathie.

In sehr seltenen Fällen findet sich eine Degeneration der lockeren bindegewebigen Verschiebeschicht innerhalb der Muskularis propria ungeklärter Genese mit der Folge einer erschwerten Muskelkontraktion (Desmose).

Für die Motilitätsstörung werden folgende Ursachen angeführt:

§  Als häufigste Ursache der CIIP wird eine Autoimmunreaktion angenommen (Ghirardo 2005)[2] mit Bildung antineuronaler Antikörper und enterischer neuronaler Degeneration.

§  Als Störung oder Rarifizierung der intestinalen Cajal-Zellen. Diese finden sich in der Muskulatur des Gastrointestinaltrakts und vermitteln die elektromechanische Aktivität für die gesamte gastrointestinale Motilität (Stanghellini 2005)[3], z. B. bei der paraneoplastischen Form beim kleinzelligem Bronchialkarzinom (Pardi 1997[4], Sørhaug 2005[5]), der slow-transit constpation (Wedel 2002)[6] oder bei der idiopathischen Form (Boeckxstaens 2002)[7].

§  Als autoimmune Erkrankung bei der enterischen Leiomyositis (Haas 2005)[8]

§  Als Folge einer neurologischen Erkrankung (ALS oder MS)

§  Als assoziiertes Symptom internistischer Erkrankungen ( hepatische Enzephalopathie bei Leberzirrhose, kongestive Herzerkrankung oder andere Autoimmunerkrankungen wie Lupus erythematodes).

Klinisch präsentiert sich die Erkrankung mit Stuhlverhalt bis hin zur Ileussymptomatik, Völlegefühl und Inappetenz, einer Zunahme des Leibumfanges und Inppetenz. Der Verlauf kann fortschreiten und bei zunehmender Distension in einer Darmperforation mit akutem Abdomen münden.

Die Diagnostik schließt eine Bildgebung sowie ein Labor mit Entzündungsparametern und Laktat ein. Radiologisch imponieren auf einer Abdomenübersicht die distendierten Darmanteile. Ein Abdomen CT ist aussagekräftiger, da es das Vorliegen relevanter Stenosen detektieren kann. Häufig bestehen Beschwerden über Jahre und werden erst nach 5 bis 8 Jahren  richtig gedeutet (Mann 1997[9], Stanghellini 2005) [1].

Differentialdiagnostisch muss eine Spätmanifestation eines Morbus Hirschsprung erwogen werden. Bei diesem besteht ein segmentaler enterischer Nervenzellmangel im Rektum oder unteren Sigma. Er tritt meist post partum durch einen Mekoniumileus in Erscheinung und wird  dann durch endoskopische, radiologische, manometrische und histologische Methoden gesichert. In der Regel liegt begleitend eine Motilitätsstörung des Antrums und Duodenums sowie des gesamten Dünndarms vor, die auch ein frühes Völlegefühl verursachen können (Nachweis über eine antroduodenale Manometrie). 

Eine kausale Therapie gibt es in der Behandlung des Ogilvie Syndroms nicht. Therapieansätze zielen in der Akutphase auf eine endoskopische Absaugung gefangener Darmgase oder Anlage eines hohen Darmrohres. Bei Komplikationen wie drohender oder eingesetzter Perforation wird ein Anus praeter angelegt. Auch wurde eine totale Kolektomie diskutiert. Wenn die Dünndarmmotilität vorrangig mitbetroffen ist, wurde auch schon eine Dünndarmtransplantation in Erwägung geszogen und gelegentlich durchgeführt (Stanghellini 2005).

Langfristig wird den Patienten empfohlen, auf blähende Speisen zu verzichten. Einzelfälle beschreiben eine parenterale Langzeiternährung über einen Port (Stanghellini 2005) oder Ernährungssonden (Mann 1997). In Einzelfällen mit einer paraneoplastischen Genese mit inhibierenden Mediatorstoffen wurde Oktreotid erfolgreich eingesetzt (Sørhaug 2005).

Auch werden Prokinetika zur Verbesserung der GI-Dysmotilität eingesetzt. Dazu zählen Erythromycin, ein Makrolid-Antibiotikum, häufig in Verbindung mit Octreotid. Dadurch wird die Antrum-Duodenal-Phase III des migrierenden motorischen Komplexes stimmuliert und folglich der Dünndarmtransit beschleunigt (Di Lorenzo 1999[10], Venkatasubramani 2008[11]). Zusätzlich kann die Serotonin (5-Hydroxytryptamin oder 5-HT) stimmuliert werden. Dazu gehört Prucaloprid, ein 5-HT4-Rezeptoragonist, mit prokinetischen Einfluss auf die Magenentleerung und den Dünndarmtransit (Di Lorenzo 1991[12], Hyman 1993[13], Amiot 2009[14]). Weitere  Wirkstoffe sind die Acetylcholinesterase-Inhibitoren (ACIs) Neostigmin und Pyridostigmin. Sie haben ihre Wirkung in Fällen, die gegenüber Standardtherapien refraktär sind (Law 2001[15], O’Dea 2010[16], Di Nardo 2019[17]).

Zur Behandlung und Prophylaxe werden am häufigsten die Antibiotika Amoxicillin-Clavulanat, Ciprofloxacin, Doxycyclin und Metronidazo eingesetzt (Kirby 2018)[18]. Auch wurde Rifaximin empfohlen. Es ist ein schlecht resorbierbares Antibiotikum mit zusätzlicher bakteriziden/bakteriostatischen Wirkung aber geringer bakterieller Resistenz (Koo 2010[19], Rabenstein 2011[20]). Die Verabreichung führt zu einer Verbesserung der obstriktionsbedingten assoziierten Symptome (Menees 2012[21], Saadi 2013[22])