Nicht, dass man sich im 19. Jahrhundert nicht auch ungewollt
eine Bleivergiftung zuziehen konnte. Das Schwermetall fand sich überall
im täglichen Leben: Wein wurde mit Bleiweiß und Bleizucker geschönt,
Blei war Bestandteil von Farben, Arzneimitteln, Tabak, Kohlestaub, von
Wasser aus Bleirohren und anderem mehr. Vincent van Gogh tat jedoch
etwas, was ihm zusätzlich schadete: Er aß Blei.
Er
tat das bewusst, indem er die von ihm verwendeten bleihaltigen Farben
aufnahm, etwa indem er die Pinselborsten mit den Lippen anspitzte oder
mit Farbe überzogenen Pinsel am Stiel im Mund hielt. Er leckte seine
farbverschmierten Hände ab. Und er trank Lampenöl. Das sei durch
Zeitzeugen bestätigt, so Dr. Edward Weissman, Dozent für Innere Medizin
an der University of Virginia, USA.
Weissman
wundert sich darüber, dass mehr als 150 Ärzte, die sich im Laufe der
Zeit mit der Pathografie van Goghs auseinandergesetzt haben, dessen
Symptome auf fast 30 verschiedene, vor allem neurologisch-psychiatrische
Diagnosen zurückgeführt haben. Übersehen haben sie nach Auffassung des
Internisten jedoch, dass all die bekannt gewordenen Krankheitszeichen
des Malers sich gut mit einer chronischen Bleiintoxikation und einer
sich daraus entwickelnden Enzephalopathie erklären ließen. Diese würden
manche psychopathologischen Erscheinungen bei van Gogh und schließlich
auch den (angeblichen) Suizid begreiflich machen.
Freilich
war van Gogh durch seine unglückliche Kindheit psychisch vorbelastet.
Ein Jahr vor seiner Geburt war der Erstgeborene seiner Eltern, der Vater
war Pfarrer, verstorben. Der tote Bruder trug ebenfalls den Vornamen
Vincent. Als Kind musste van Gogh nach jeder Sonntagspredigt den
Grabstein passieren, auf dem der gemeinsame Vorname stand. Die Mutter
soll nie über den Verlust hinweg gekommen sein. Mit elf Jahren verlässt
van Gogh das Elternhaus und besucht ein Internat.
Bereits
als Kind galt Vincent van Gogh als Sonderling und Eigenbrötler.
Beruflich scheiterte er vielfach, trotz vorhandener Intelligenz und
guter Kenntnisse in vier Fremdsprachen, sei es als Kunsthändler, Lehrer
oder Prediger. In einem Brief an seine künftige Frau charakterisierte
sein jüngerer Bruder Theo van Gogh im Jahre 1889 den Älteren so: „Wie Du
weißt, hat er seit langem mit allem, was man Konventionen nennt,
gebrochen. Seine Art sich zu kleiden und seine Allüren lassen sofort
erkennen, dass er ein besonderer Mensch ist, und seit Jahren sagt, wer
seiner ansichtig wird: Das ist ein Verrückter.“ Theo finanzierte ihm das
Leben, so gut es ging. Vincent „bezahlte“ Theo im Gegenzug mit Bildern,
die sich zu Lebzeiten allerdings so gut wie nicht verkauften.
Daher
hatte Vincent van Gogh nie Geld, hungerte oft, litt häufig an Symptomen
der Unterernährung sowie Abdominalbeschwerden. Das hatte Auswirkungen
auf sein Äußeres. Die Umgebung nahm ihn teilweise als geradezu
geisterhafte Erscheinung wahr. Aus Briefen, beginnend 1882, lassen sich
nach Weissmans Angaben folgende Symptome ableiten: schlechte
Blutzirkulation, Depressionen und Suizidgedanken, Magenbeschwerden,
Entkräftung, Fatigue, Gedächtnisprobleme, Geistesabwesenheit,
Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Nervosität, Reiz- und
Übererregbarkeit, ein Gefühl, dem Irrsinn nahe zu sein, Fieber, Essen
von Schmutz, geringes sexuelles Interesse, Schlaflosigkeit, Alpträume,
Hyperaktivität, Ohnmachten, Kälteintoleranz, Peridontitis und
Zahnausfall, Schwäche der Hand und anderes mehr.
Eisenmangel durch Brot verstärkt
Van
Gogh hat mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer Eisenmangelanämie
gelitten, verstärkt durch den beständigen Brotkonsum: Weizenbrot enthält
Phytate mit komplexbildenden Eigenschaften, die die Resorption einiger
Mineralien und von Eisen unterbinden. „Viele Patienten mit Eisendefizit
entwickeln ein Pica-Syndrom“, so Weissman. Bei dieser Essstörung nehmen
die Patienten ungenießbare Dinge zu sich wie Abfall, Sand oder Steine.
Bei van Gogh waren es Farbe und Lampenöl, die die „übliche“
Bleiingestion aus Alkoholika, aus dem Tabak (er war ein exzessiver
Raucher) oder dem Einatmen von Kohlenstaub noch verstärkten. Zwar hat
bereits Hippokrates Bleikoliken beschrieben. Aber selbst heute ist die
klinische Diagnose einer Bleiintoxikation (Saturnismus) schwierig, da
die Symptome uncharakteristisch sind, teilweise sogar fehlen.
Blei-Enzephalopathie und Radialislähmung
Blei
hemmt die Hämsynthese und addierte sich bei van Gogh zur bereits
bestehenden Eisenmangelanämie. Die kontinuierliche Akkumulation von Blei
im Körper führte schließlich zu einer peripheren Neuropathie,
wahrscheinlich mit Radialislähmung — das Halten des Pinsels wurde
problematisch. Die verminderte visuell-motorische Koordination erklärt
nach Weissmans Ansicht den veränderten Pinselstrich und andere Defizite,
die späte Bilder van Goghs im Vergleich zu frühen Werken auszeichneten.
Manche Auffälligkeiten, wie etwa die zeitweise künstlerische
Hyperaktivität van Goghs oder die Neigung zu selbstverletzendem
Verhalten (etwa indem er seine Hand in eine Flamme hielt, womöglich auch
die bekannte Ohrverletzung), könnten ebenfalls mit der
Blei-Enzephalopathie in Verbindung stehen.
Von Kindern erschossen?
Der
Tod durch Bleiintoxikation kommt selten vor, ist bei Malern aber
beschrieben worden (August Haake, Candido Portinari). Van Gogh ist zwei
Tage nach einer Schussverletzung in die Brust gestorben. Neue
Erkenntnisse haben Zweifel an einem Suizid aufkommen lassen. Womöglich
handelte es sich um eine versehentliche Verletzung durch mit einer
Pistole spielende Kinder. Der Maler wollte, folgt man dieser Hypothese,
die Kinder decken und nahm seinen Tod billigend in Kauf.