Translate this page

Sonntag, 26. Juni 2022

Fall 74: der Weichteildefekt am Hoden

 Diagnose:

Z.n. Weichteildebridement bei Fournierschen Gangrän

Procedere:

Es erfolgt die Verlegung in eine urologische Fachklinik. Dort wird die plastische Deckung mit Schwenklappen und einer Rekonstruktion des Skrotums erreicht. Der Verlauf ist jedoch nicht unkompliziert. Es werden noch weitere Debridements peranal bei weiterer Absessbildung angeschlossen. Die initialen Wunden bleiben jedoch davon unbetroffen. Unter Dauerantibiose gemäß Antibiogramm heilen die Weichteile schließlich ab, und der Patient kann nach 46 Tagen die stationäre Behandlung verlassen.

Diskussion

Der Morbus Fournier gilt als Sonderform einer infektiösen, nekrotisierenden Fasciitis in den perinealen, peranalen und skrotalen Geweben. Es bedarf dazu eines Synergismus aus vorbestehenden Komorbiditäten und einem idealen Nährboden für eine bakterielle Ausbreitung. Der Verlauf ist foudroyant und erfordert eine rasche chirurgische Sanierung mit einer frühzeitigen antimikrobiellen Behandlung und intensivmedizinischer Therapie.

Der Namensgeber für das Krakheitsbild ist Jean Alfred Fournier (1832 - 1914), der 1883 einen Artikel unter dem Titel „Gangrene ­foudroyante de la verge“ (Fulminantes Gangrän des männlichen Gliedes) veröffentlichte. Darin benennt er die drei wesentlichen Aspekte der Erkrankung mit einem plötzlichen Beginn eines bis dahin gesunden jungen Mannes, eine rasche Progression mit Übergang in eine fortschreitende ­Gangrän ohne eine definitive Ursache. Letztere ist der Unterschied zu spezifischen Erkrankungen.

Grundsätzlich kann die Gangrän bei Männern wie auch Frauen und Kindern auftreten, wobei das Verhältnis mit 10:1 zu Ungunsten des männlichen Geschlechtes gewichtet ist[i]. Die jährliche Inzidenz beträgt 1,6 Fälle auf 100 000 Männer mit einer Mortalitätsrate von 16 %.

Die Diagnose wird klinisch gestellt. Oft besteht eine fulminante Nekrose mit einhergehender Sepsis; ausgehend von einer kleinen Hautläsion schreitet die Gangrän oft innerhalb weniger Stunden fort. Es kommt zu einer zunehmenden Nekrose mit erst rötlich-livide und anschließend schwarzer Demarkation. Dieser typische Verlauf kann jedoch in bis zu 40 % der Fälle auch fehlen. Es entwickelt sich dann lokal ein Ödem mit Induration und Krepitation, Schmerzen und einem oft stark beißenden Geruch. Fieber, Schüttelfrost und erhöhte Infektparameter im Labor. Der Patient erscheint krank mit Zeichen einer Sepsis. Radiologisch können subkutane Lufteinschlüsse oder Abszessbildung bestehen.

Begünstigend wirken systemische Grunderkrankungen, z.B. Diabetes mellitus und Alkoholismus. Diese finden sich in 70 % der Fälle. Zusätzlich könne Leukämien, ­maligne Erkrankungen, chronischer Steroidmissbrauch, Unterernährung und HIV-Infektionen vorliegen.

Als Eintrittspforten gelten Hautdefekte, der Gastrointestinaltrakt und der Genital- und Harntrakt besonders nach Eingriffen, Verletzungen und Erkrankungen, wie zum Beispiel in einzelnen Fällen nach Vasektomie[ii], [iii], bei renalen oder rektalen Abszessen, Harnröhrensteinen und -strikturen mit Extravasation sowie bei rupturierten Appendices, Divertikulitis und Kolonkarzinomen.

Das Erregerspektrum ist eine Mischkultur aus aeroben und anaeroben Bakterien, insbesondere Clostridien, Klebsiellen, Streptokokken, Coliformen und Staphylokokken. Es entwickelt sich ein selbst unterhaltender Synergismus. Durch Aerobier wird der Nährboden für anaerobe Keime geschaffen. In der Folge entwickelt sich eine Endarteriitis obliterans mit Thrombosierung kleinerer Haut- und Subcutangefäße und daraus resultierend die Gewebsnekrose[iv],[v],[vi]

Therapeutisch steht das frühzeitige radikale chirurgische Debridement mit antibiotischer Breitspektrumtherapie unter intensivmedizinischer Versorgung im Vordergrund.
Die chirurgische Sanierung sollte so früh wie möglich beginnen[vii]. Dies verbessert die Überlebenschancen. Intraoperativ zeigt sich oft eine bis zur reichende Nekrose. Selten ist die Muskulatur oder die Testes mitbetroffen. Das Ausmaß der Nekrose überschreitet oft das äußerliche Erscheinungsbild. Medikamentös wird die chirurgische Weichteilsanierung mit einem Breitspektrumantibiose in Form einer Dreifachantibiose gegen Anaerobier, Streptokokken, Staphylokokken und coliforme Bakterien empfohlen. Diese kann nach Erhalt der Kulturen gemäß des Antibiogramms resistenzgerecht angepasst werden.

Die nekrotisierende Fasciitis ist, laut Verband deutscher Druckkammer-Zentren, eine Indikation für die adjuvante hyperbare Sauerstofftherapie. In den Leitlinien der European Association of Urology (EAU) findet die Anwendung jedoch noch keine Zustimmung.




[i] Eke N. Fournier’s gangrene: a review of 1726 cases. Br J Surg 2000; 87: 718-728.

[ii] Viddeleer AC, Lycklama a Nijeholt GAB. Lethal Fournier’s gangrene following vasectomy. J Urol 1992; 147:1613-14

[iii] Patel A, Ramsay JW, Whitfield HN. Fournier’s gangrene of the scrotum following day case vasectomy. J R Soc Med 1991; 84: 49-50

[iv] Smith GL, Bunker CB, Dinneen MD. Fournier’s gangrene. Br J Urol 1998; 81: 347-355

[v] Mallikarjuna MN, Vijayakumar A, Vijayraj SP, Shivswamy BS. Fournier’s Gangrene: Current Practices. ISRN Surg 2012; Article ID 942437, 8 pages

[vi] Sroczynski M, Sebastian M, Rudnicki J, Sebastian A, Agrawal AK. A complex approach to the treatment of Fournier’s gangrene. Adv Clin Exp Med 2013; 22(1); 131-5

[vii] Grabe M, Bjerklund-Johansen TE, Botto H, Çek M, Naber KG, Pickard RS, Tenke P, Wagenlehner F,     Wullt B. Guidelines on urolgical infections. Uroweb 2013. http://www.uroweb.org/gls/pdf/18_Urological%20infections_LR.pdf, accessed Nov 1th 2013.