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Montag, 29. September 2014

Platte nicht besser als K-Drähte bei distalen Radiusfrakturen

Bei dislozierter distaler Radiusfraktur ist die Kirschnerdraht-Osteosynthese der offenen Versorgung in puncto Funktionalität offenbar ebenbürtig. Die Ergebnisse einer randomisierten Studie konterkarieren den Trend zur aufwändigen (und teuren) Plattenosteosynthese.

Bei der Versorgung der dislozierten distalen Radiusfraktur geht der Trend seit Jahren deutlich zur Plattenosteosynthese – obwohl qualitativ hochwertige Studien zur Wahl der Op.-Technik rar sind und Experten der Cochrane-Collaboration einen „gravierenden Mangel an verfügbarer Evidenz“ beanstanden. Viele Zentren argumentieren mit der besseren Retentionssicherheit, die durch das offene Verfahren erzielt wird.

Dieses Dogma wird nun jedoch durch die Ergebnisse einer randomisierten, kontrollierten Studie aus Großbritannien infrage gestellt. Die Studie, an der 18 britische Unfallkliniken beteiligt waren, verglich die Versorgung mittels palmarer Platte mit der ebenfalls häufig eingesetzten Kirschnerdraht(K-Draht)-Osteosynthese, bei der Bohrdrähte durch die Haut in den Knochen eingebracht werden. In der Bohrdraht-Gruppe wurde der Unterarm anschließend durch einen Gipsverband stabilisiert. Der K-Draht zeichnet sich durch ein deutlich geringeres Maß an Aufwand und Kosten bei minimalem Trauma aus.

Score misst Funktion und Schmerzen
Das Resultat überraschte auch die Forscher um Matthew L. Costa von der University of Warwick im englischen Coventry: Im Hinblick auf den PRWE-Score (Patient Rated Wrist Evaluation) war die Fixation mittels Bohrdraht der Platten-Op. ebenbürtig. Costa et al. hatten den Score zwölf Monate nach dem jeweiligen Eingriff erhoben. Gemessen wird die Handgelenksfunktion nach Angabe der Patienten unter Berücksichtigung von Schmerzen und Behinderungsgrad.

Insgesamt hatten 461 Patienten mit nach dorsal dislozierter distaler Radiusfraktur an der Studie teilgenommen. Letztlich hatten 208 die Kirschnerdraht-Osteosynthese erhalten, davon 54 in Kapandji-, 78 in interfragmentärer Technik und 71 mit einem kombinierten Verfahren. 213 Patienten hatte man von palmar eine winkelstabile Platte implantiert.

Nach Bohrdrahtversorgung wurden im Schnitt 15,3 Punkte von 100 erreicht, nach Plattenfixation 13,9 (der höchste Wert entspricht dem schlechtestmöglichen Ergebnis). Der Unterschied in der Effektstärke (–1,3 zugunsten der Platte) ist nicht signifikant (p = 0,398). Auch Subgruppenanalysen mit unterschiedlichen Altersgruppen (unter 50 und 50+) kamen zu keinem substanziell anderen Ergebnis (p = 0,338), ebensowenig brachte die Unterteilung in Gruppen mit oder ohne intraartikuläre Fraktur einen nennenswerten Vorteil für die Platte (p = 0,211).

Letztere punktete lediglich marginal im sekundären Endpunkt, dem DASH-Score (Einschränkungen an Arm, Schulter und Hand). Hier war nach einem Jahr eine Effektstärke von –3,2 zu sehen (p = 0,051); diese lag jedoch deutlich unter dem, was die Forscher als klinisch relevant bezeichnet hätten.
Widerspruch zum aktuellen Trend

Auch bei den Komplikationsraten und der Lebensqualität zeigte sich kein Hinweis auf Überlegenheit eines der beiden Verfahren. Die Studiengruppe weist darauf hin, dass die Handgelenksfunktion sich zwar im Beobachtungszeitraum verbessert hatte, aber in beiden Gruppen nicht mehr auf das Niveau vor dem Unfall zurückgekehrt war.

Für Costa und sein Team widerspricht die Studie dem allgemeinen Trend zur Plattenosteosynthese bei distaler Radiusfraktur. Ein verbessertes funktionelles Ergebnis mit dem offenen Verfahren, wie es in früheren Studien gezeigt worden war, konnten die Autoren der Multicenter-Studie nicht bestätigen. Für eine definitive Bewertung bleiben allerdings Studien mit längerer Nachbeobachtungszeit abzuwarten.

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 http://www.bmj.com/content/349/bmj.g4807

Donnerstag, 25. September 2014

Therapie von plantaren Stichverletzungen

Plantare Stichverletzungen sind im Sommer besonders häufig, v. a. von Mai bis Oktober. Die Wundversorgung richtet sich nach den Verletzungsumständen. Die relativ kleine Eintrittspforte begünstigt insbesondere in Verbindung mit der Stärke der Fußsohle einen raschen Wundverschluss und bietet dadurch ideale Bedingungen für eine Wundinfektion.

Klassifikation
Die Klassifikation nach Patzakis, Los Angeles, USA, unterteilt plantare Stichverletzungen in drei Zonen:

  • Zone 1: Vorfußbereich, hohe Komplikationsrate aufgrund der geringen Weichteildeckung und den dadurch ungeschützten Sehnen und Gelenken.

  • Zone 2: Mittelfußbereich mit höherer Weichteildeckung, Muskulatur und Sehnenfächern.

  • Zone 3: Rückfußbereich, in dem es insbesondere durch die hohe Krafteinleitung über die Ferse zu tiefen Verletzungen des Calcaneus kommen kann.

Behandlung
Obligat ist die Frage nach dem Tetanusschutzes. Neben der Anamnese wird eine Beurteilung der Wunde vorgenommen.

  • Kleine, saubere und schmerzlose Wunden ohne Risikofaktoren: keine weiteren Maßnahmen erforderlich.

  • Verunreinigte Wunden mit Fremdkörpergefühl, Schmerzen oder Zeichen einer Infektion: Röntgenbild - Wunddesinfektion mit Spülung mit Aqua dest. Debridement von devitalisiertem Gewebe und ggfs. Austasten der Wunde.

  • Weiterführende Maßnahmen unter Analgesie in Leitungsanästhesie, z.B. N tibialis posterior. Die Injektion des Lokalanästhetikums sollte nicht direkt durch die plantare Oberfläche des Fußes erfolgen.

  • Tiefe Verletzung, z.B. Fremdkörper und starker Verschmutzung: ggfs Exzision des Stichkanals.
  • Anhaltendes Fremdkörpergefühl bei negativem Tastbefund, therapierefraktäre Infektionen oder anhaltende Schmerzen: Weiterführende Bildgebung.
Pattamapaspong führte systematische Untersuchungen an Fußpräparaten durch. Für die Erkennung von verschiedenen Fremdkörpern betrugen Sensitivität und Spezifität für Röntgenaufnahmen 29% und 100%, für Computertomografien (CT) 63% und 98% und für Kernspintomografien (MRT) 58% und 100%. Bei wasserhaltigem Holz war die CT der MRT überlegen.

Antibiotika
Die prophylaktische Gabe eines Antibiotikums wird kontrovers diskutiert. Als wesentliche potenzielle Erreger gelten Staphylococcus aureus, beta-hämolysierende Streptokokken und Pseudomonas aeruginosa, wobei letzterer insbesondere beim „sweaty tennis shoe syndrome“ oder in Süßwasserseen inokuliert werden kann und inzwischen häufig auf Ciprofloxacin resistent ist.

Bei reizlosen Wunden ohne Infektionszeichen ist kein prophylaktisches Antibiotikum erforderlich, insbesondere weil bei fehlender Abdeckung von Pseudomonas aeruginosa eine entsprechende Selektion erfolgen kann. Bei Risikopatienten, z. B. Diabetikern, sollte ein Breitbandantibiotikum wie Amoxicillin-Clavulansäure verschrieben werden. Besteht der Anhalt für eine Infektion mit Pseudomonas aeruginosa, können bei Resistenz gegen Ciprofloxacin weniger wirksame oral applizierbare Fluorchinolone wie Levofloxacin erwogen werden.

Verlaufskontrollen:
Bei allen Stichverletzungen der Fußsohle ist neben Hochlagern, Entlasten und einer Schmerztherapie eine Reevaluation spätestens nach zwei Tagen insbesondere im Hinblick auf Zeichen einer tiefergehenden Infektion erforderlich. Geringe Weichteildeckung, bradytrophes Gewebe, erhöhtes Alter, Immunsuppression und Komorbiditäten erhöhen das Infektionsrisiko. Neben einem möglichen Fremdkörper sollte auch besonderes Augenmerk auf dem Schuhwerk liegen in Bezug auf Verschleppung von Schaumstoff- oder Lederteilen. Arbeitsschuhe sind dagegen zur Prävention plantarer Stichverletzungen bereits mit einer Fußsohlenverstärkung ausgestattet.

Fazit
Anamnese und Wundinspektion bestimmen das Vorgehen bei plantaren Stichverletzungen. Bei fehlenden Risikofaktoren, reizlosen Wunden, fehlenden Infektionszeichen und Ausschluss eines Fremdkörpers ist neben Spülung der Wunde, Hochlagern und Entlasten keine spezifische Therapie erforderlich. Ist eine indizierte Antibiotikatherapie nicht erfolgreich, muss neben einem Fremdkörper auch eine Pseudomonas-aeruginosa-Infektion erwogen werden. Bei Infektionen, tiefergehenden Verletzungen und Fremdkörpern ist eine Vorstellung beim Unfallchirurgen angezeigt.

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Urban & Vogel (2014) DOI: 10.1007/s15006-014-3209-1

Samstag, 20. September 2014

Rütteln gegen Osteoporose

Hintergrund: Ganzkörpervibrationstraining (GKV) stimuliert durch mechanische Schwingungen die Muskulatur. Dies führt zu einer erhöhten muskulären Aktivität und zu Verformung am Knochen, was zu einer Remodullierung der Knochen und Erhöhung der Dichte führt. Das Ziel dieser systematischen Literaturübersicht war, ob eine Muskelaktivierung bzw. Muskelkräftigung hervorgerufen durch GKV einen Effekt auf die Knochendichte von postmenopausalen Frauen hat.

Methoden: Diese systematische Literaturübersichtsarbeit wurde nach den Vorgaben des PRISMA-Statements für Metaanalysen und systematische Übersichtsarbeiten durchgeführt. Die Literatur wurde in verschiedenen elektronischen Datenbanken (PubMed, Cinahl) und Google Scholar gesucht. Die Suche, nach geeigneter Literatur, fand zwischen Juni 2012 und August 2013 statt. Die Qualität der Arbeiten wurden mittels dem „Cochrane-Risk-of-Bias-Instrument“ von zwei unabhängigen Personen (LC, SR) beurteilt.

Ergebnisse: Es wurden 246 Studien gesichtet. In die Analyse wurden 3 Studien mit vertikaler und 2 Studien mit seitenalternierender GKV eingeschlossen, mit insgesamt 368 Probanden mit einer Streuung von 60,7 – 79,6 Jahren. Von diesen trainierten 132 auf vertikal vibrierenden (VGKV) und 67 auf seitenalterierenden (SGKV) vibrierenden Platten. Die eingeschlossenen Studien wiesen ein mittleres bis hohes Risiko für Verzerrung auf. Die Behandlungsparameter waren sehr heterogen. Die Frequenzen wurden für VKGV zwischen 12,0 – 40,0 Hz und für SGKV mit 12,5 Hz gewählt und mit einer breit gestreuten Amplitude zwischen 1,7 und 12,0 mm bei einer vertikalen Beschleunigung von 0,1 – 10,0 g.

Schlussfolgerung: Diese systematische Literaturstudie zeigte signifikante Einflüsse nach VGKV mit Frequenzen von 30,0 – 40,0 Hz (3x/Woche, jeweils 15 Minuten Trainingszeit) auf die isometrische Maxmalkraft (IMK) von 15,1 – 16,5 % und der dynamischen Maximalkraft (DMK) von 7,9 – 16,5 % sowie der SKGV mit einer Frequenz von 12,5 Hz (3x/Woche, jeweils 15 Minuten Trainingszeit) auf die IMK von 26,6 %. Daraus resultierte eine Zunahme der Knochendichte in der LWS von 0,5 – 0,7 % und der Hüfte von 0,8 – 0,9 % bei postmenopausalen Frauen. Diese klinisch signifikanten Resultate müssen zukünftig mittels qualitativ hochwertig randomisiert-kontrollierten Studien bestätigt und nach dem CONSORT Statement rapportiert werden.


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LR. Calendo, J Taeymans, S Rogan:Hat die Aktivierung der Muskulatur durch Ganzkörpervibration einen Effekt auf die Knochendichte von postmenopausalen Frauen? Eine systematische Literaturübersicht.Sportverletz Sportschaden 2014; 28(03): 125-131

Donnerstag, 11. September 2014

50% der Chirurgen wollen hinschmeißen!

Während der Facharztausbildung denkt offenbar mehr als die Hälfte der angehenden Chirurgen ans Aufhören. Die Gründe waren in einer US-Studie wenig überraschend: Schlafmangel, zu lange Schichten und, vor allem bei Frauen, die Aussicht auf ein Berufsleben, das sich mit der Familie schlecht vereinbaren lässt.

Der Gedanke, alles hinzuschmeißen, ist während der Ausbildung zum Chirurgen offenbar weit verbreitet. 58% einer Gruppe von 288 US-amerikanischen Assistenzärzten, die anonym befragt wurden, gaben an, während ihrer Ausbildung zum Facharzt mehrmals im Jahr ernsthaft ans Aufhören gedacht zu haben. Am häufigsten wollten die Betroffenen in den ersten beiden Jahren kapitulieren (45,8 bzw. 41,4%).

Hauptsächlich bei Frauen zogen sich solche Gedanken über die ganze Assistenzarztzeit und noch bis zum Erlangen des „leitenden Arztes“ hin, während Männer sich im Laufe der Ausbildung offenbar besser mit ihren Arbeitsbedingungen arrangierten. Ab dem zweiten Ausbildungsjahr waren es vor allem Frauen, die ernsthaft ans Aufhören dachten.

Unattraktive Perspektiven
Die Gründe für solche Überlegungen waren in der Studie von Dr. Edward Gifford und Kollegen vom Harbour UCLA-Medical Center in Los Angeles wenig überraschend: 50% waren vom häufigen Schlafmangel genervt, bei 47% spielten die Aussichten auf ein wenig attraktives Berufsleben die wichtigste Rolle. 41,4% fanden die exzessiven Schichten so belastend, dass sie die Flinte ins Korn werfen wollten.
87 der Befragten setzten ihren Entschluss in die Tat um, davon 46,4% Frauen. Berücksichtigte man jedoch das Geschlechterverhältnis über zehn Jahre, wurde deutlich, dass insgesamt wesentlich mehr Frauen tatsächlich das Handtuch warfen als Männer (Odds Ratio 1,9; p = 0,005).
Insgesamt ermittelten die Forscher in den 13 untersuchten Ausbildungsprogrammen – die meisten davon universitär – eine Abbruchrate von 14,4% über zehn Jahre. In drei Programmen stieg sogar mehr als jede(r) fünfte Teilnehmer(in) vorzeitig aus.

Den Exodus der Frauen stoppen
Den Forschern zufolge müssen sich die Verantwortlichen nun ernsthaft überlegen, wie man die Abwanderung, vor allem der Frauen, bremsen könnte. Begrenzungen der Wochenstunden hatten in Studien wenig gebracht. Vielmehr müsse man Frauen bei dem schwierigen Spagat zwischen Beruf und Familie besser unterstützen, so Gifford et al. Die Tatsache, dass Frauen in chirurgischen Abteilungen nur selten gleichgeschlechtliche Ansprechpartnerinnen finden, trage sicher nicht zur Lösung des Problems bei.

Aktion statt Opferhaltung
„Mit dem Mythos vom Chirurgen als ewig untergebuttertes, ausgebeutetes Opfer mit lausigen Berufsaussichten muss endlich aufgeräumt werden“, schreibt Karen E. Deveney, Chirurgin an der Oregon Health and Science University in Oregon, in ihrem Kommentar zur Studie. Das ewige Jammern über verkorkste Karrieren, wie es viele Kollegen betrieben, sei kontraproduktiv und entmutige den Nachwuchs. Sie appellierte an die Leiter der Facharztprogramme, proaktive Schritte zu unternehmen: Die Chefs müssten ihren Schützlingen von Beginn an zeigen, wie man eine gesunde Balance zwischen Arbeits- und Familienleben erreichen kann. Schließlich gebe es zahlreiche Beispiele chirurgischer Praxen mit gut strukturierten Arbeitszeiten. Deveney riet, weibliche Assistenzärzte mit etablierten niedergelassenen Chirurginnen zusammenbringen, die den Spagat zwischen Familie und Beruf erfolgreich bewältigt haben.
Den Exodus der Facharztanwärter zu stoppen, tut auch in Deutschland not: Hierzulande hat der Berufsverband der Chirurgen bereits vor einem drohenden Fachkräftemangel gewarnt.

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Gifford E et al. Factors Associated With General Surgery Residents’ Desire to Leave Residency Programs. A Multi-institutional Study. JAMA Surg 2014; online 30. Juli; doi: 10.1001/jamasurg.2014.935

Freitag, 5. September 2014

TIA durch Energy-Drink?

Ein 26-jähriger Arzt erleidet in der eigenen Notaufnahme eine transitorische ischämische Attacke (TIA). Einziger Risikofaktor: zwei Energy-Drinks zum Wachbleiben.

Die stimulierende Wirkung von Energiegetränken ist längst schon beworben worden.  In der Literatur mehren sich jedoch inzwischen Fälle, in denen Energy-Drinks den Konsumenten neben Flügeln auch gleich noch eine Harfe mitgegeben wird.

Eine Gruppe von Medizinern um die Neurologin Süber Dikici (Universität Düzce, Türkei) berichtet über den Fall eines jungen Arztkollegen, der  trotz leeren Magens zwei Dosen eines koffeinhaltigen Energy-Drinks getrunken hatte. Das entspricht der Aufnahme von circa 160 mg Koffein, also etwa zwei Tassen Kaffee. Er erlittr einen plötzlichen Visusverlust auf dem rechten Auge, der nach vier Stunden spontan verschwand.

Keine Risikofaktoren
Sämtliche weiterführenden Untersuchungen bleiben unauffälig und schließen etwaige Risikofaktoren aus. Blutdruck, Herzfrequenz und EKG sind unauffällig, die Röntgenaufnahme des Thorax ebenso. Kardiovaskulär und respiratorisch scheint der Arzt auf der Höhe. Er gibt an, weder Kaffee noch Alkohol in exzessiven Mengen zu sich zu nehmen, er habe kein Fieber und keinen Infekt, Drogen nehme er auch keine. Die Anamnese ist, die TIA betreffend, vollständig leer, die Laborparameter – von der Thrombozytenkonzentration über den HIV-Test bis zur Bestimmung von antinukleären, antimitochondrialen und Anticardiolipin-Antikörpern – sind normal. Nachdem alle ätiologischen Möglichkeiten erwogen und verworfen worden sind, kamen die Ärzte zu dem Schluss, die TIA müsse auf die Wirkung des Energiegetränks zurückzuführen sein.
Nebenwirkungen bekannt
Was dem jungen Arztes nach dem Konsum zweier Energie-Drinks zugestoßen ist, mag erstaunen, ein Einzelfall ist es nicht. Ähnliche Ereignisse sind schon früher beschrieben worden: Von Hypertonie, zerebraler Vaskulopathie, akuter Manie, ischämischem Insult, Koronarspasmen und -thrombosen, Myokardinfarkt und Herzstillstand ist da die Rede. Spekuliert wird, dass exzessive Koffeinaufnahme in Verbindung mit Taurin, das ebenfalls in Energy-Drinks enthalten ist, bei physiologisch prädisponierten Personen kardiovaskuläre Ereignisse, etwa einen Spasmus der Arteria centralis retinae, auslösen kann. Wie Dikici und Kollegen einräumen, liegt ein endgültiger Beweis dafür aber nicht vor.




Dikici S et al. Does an energy drink cause a transient ischemic attack? Am J Emerg Med 2014, online 1. Juli; doi: 10.1016/j.ajem.2014.06.037



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Sonntag, 31. August 2014

Fall 38: Der Akute Bauch: Laktoseintoleranz

Vertiefen Sie Ihre Anamnese. Sie werden merken, dass die Patientin keine Milchprodukte mag und verträgt. Der Milchreis war ein Ausrutscher...

Denken Sie an eine Laktoseintoleranz!



75 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung können keine Milch verdauen. Ihnen fehlt das Enzym Laktase, das den Milchzucker Laktose spaltet. Damit gelangt die Laktose als ganzes Molekül in den Darm, wo es durch die Bakterien vergoren wird. Als Gärungsprodukte entstehen Laktat (Milchsäure) und die Gase Methan (CH4) und Wasserstoff (H2). Die Gase führen unter anderem zu Blähungen, die osmotisch aktive Milchsäure zu einem Wassereinstrom in den Darm (osmotischer Diarrhoe). Letzteres resultiert in Durchfall.. Im Erwachsenenalter kann die Fähigkeit zum Spalten der Laktose verloren gehen. Der Mensch entwickelt eine Laktoseintoleranz. Er verträgt dann weder Kuh- noch Ziegen- oder Schafsmilch.

Die meisten Europäer dagegen können aufgrund einer Genmutation ein Leben lang Milch trinken, ohne Bauchschmerzen zu bekommen. Durchschnittlich 90 Prozent der erwachsenen Nordeuropäer vertragen Milch. In Westeuropa, Australien und Nordamerika sind es ca 85% (bei hellhäutigen Menschen). Im Süden haben mehr als zwei Drittel der Südeuropäer eine Laktoseintoleranz, in Afrika 90%, und in Asien vertragen nur etwa sechs Prozent der Bevölkerung Milch.

Die Ursache dieser Unterschiede ist historisch begründet. Die ersten Milchbauern kamen vor etwa 7.500 Jahren aus Südosteuropa oder Anatolien nach Nordeuropa kamen. Sie hatten über viele Jahrtausende das Rind domestiziert. Milch konnten sie aber nur als Joghurt oder Kefir verdauen – beides enthält kaum noch Milchzucker. Die ersten Milchtrinker dagegen fanden sich im heutigen Slowenien, Österreich und Ungarn. Dank einer Genmutation auf dem Chromosom 2 konnten sie Milch „zerlegen“. Es brachte ihnen den Vorteil, ihre Kinder nach dem Abstillen mit Kuhmilch füttern zu können. Die Säuglingssterblichkeit ging zurück und ihnen standen mehr Helfer auf den Feldern zur Verfügung, und sie mussten weniger hungern. Das könnte eine biologische Selektion verstärkt haben. Die Zahl der Milchtrinker scheint innerhalb von 3.000 Jahren von null auf 50 Prozent der Bevölkerung angestiegen zu sein. Eine enorm schnelle Veränderung, für die die Wissenschaft bisher kaum Erklärungen hat. Eine mögliche Erklärung, warum sich die Milchtrinker so schlagartig durchsetzten, könnte höchstens eine bisher unbekannte Völkerwanderung im 4. Jahrtausend vor Christus liefern. Doch dafür gibt es keine Belege. Fest steht jedoch, dass die Fähigkeit, Milch zu verdauen, die »stärkste evolutionäre Kraft war, die je im Genom der Europäer untersucht worden ist«.


Ursachen für eine später einsetzende („sekundäre“) Intoleranz sind:

·        Erkrankungen des Verdauungssystems, besonders während der Kindheit, können die laktaseproduzierenden Zellen im Dünndarm so schädigen, dass vorübergehend die Laktaseproduktion beeinträchtigt ist; in seltenen Fällen kommt es zu einer lebenslangen Laktoseintoleranz.
·        bakterielle oder virale Gastroenteritis
·        chronische Darmerkrankungen
·        Zöliakie/Sprue
·        intestinales Lymphom
·        partielle oder totale Gastrektomie
·        Kurzdarmsyndrom
·        Blindsacksyndrom/großes Duodenaldivertikel
·        Chemotherapie/Strahlentherapie
·        Mangelernährung
·        chronischer Alkoholmissbrauch
·        Dünndarmparasiten aus der Gruppe der Giardien (wie Giardia intestinalis)


Für eine Selbstdiagnose von Laktoseintoleranz gibt es zwei Möglichkeiten:

·        Diättest: Eine mehrtägige konsequente Diät ohne Laktose, vor allem ohne Milch, Rahm und „versteckte“ Laktose (viele Fertigprodukte enthalten Milchzucker oder Milchbestandteile). Treten in dieser Zeit keine Symptome mehr auf, ist eine Laktoseintoleranz wahrscheinlich. Ein Expositionstest wird dann Klarheit schaffen.
·        Expositionstest: Nach einigen Tagen Laktose-Verzicht wird ein Glas Wasser mit 50 bis 100 g gelöstem Milchzucker (gibt es in Drogerien, Reformhäusern und Apotheken) getrunken. Treten danach innerhalb von einigen Stunden die typischen Symptome auf, besteht eine Laktoseintoleranz.

Häufig ist die Diagnose aber nicht eindeutig, weil nur eine unvollständige Intoleranz besteht. Diese nimmt bei der häufigeren Form im Verlauf des Lebens zu, nicht bei der angeborenen Mutation für das Enzym. Folgende Tests sind wesentlich aufwändiger:

·        H2-Atem-Test: Dieses Verfahren basiert auf dem Nachweis von Wasserstoff (H2) in der Ausatemluft. Es ist ein indirekter Nachweis des Laktasemangels. Bei der bakteriellen Aufarbeitung der Laktose im Dickdarm entsteht neben Milchsäure, Essigsäure und Kohlenstoffdioxid auch gasförmiger Wasserstoff. Dieser gelangt über das Blut in die Lungen und wird abgeatmet. Da normalerweise kein Wasserstoff in der Ausatemluft vorhanden ist, deutet ein positives Ergebnis auf eine mögliche Laktoseintoleranz hin. Gemessen wird bei diesem Test die Wasserstoffkonzentration vor und nach der oralen Verabreichung einer definierten Menge an Laktose (Milchzucker). Als positiv gilt der Befund, wenn das Messergebnis vor und nach der Laktosegabe einen Unterschied von 20 ppm Wasserstoff aufweist. Allerdings führt dieser Test bei jedem fünften Laktoseintoleranten zu einem negativen Ergebnis: Diese Patienten haben in der Darmflora bestimmte (harmlose) Bakterien, die Methan erzeugen, wodurch der Nachweis des Wasserstoffs nicht möglich ist.

·        Blutzucker-Test: Dieses Verfahren basiert auf der Messung des Glukose-Gehalts im Blut (venöses Blut oder Kapillarblut), die Laktaseaktivität wird also über einen Anstieg der Konzentration an Glukose im Blut festgestellt. Da normalerweise Laktose in Galaktose und Glukose gespalten wird, müsste der Glukosewert (Blutzuckerwert) ansteigen, wenn Laktose eingenommen wird. Ist dies nicht der Fall, liegt der Verdacht einer Laktoseintoleranz nahe. Auch bei diesem Test nimmt der Patient auf nüchternen Magen eine definierte Menge an Laktose (üblicherweise 50 Gramm aufgelöst in einem halben Liter stillem Wasser) zu sich. Vor der Einnahme, sowie zwei Stunden lang alle 30 Minuten nach der Einnahme erfolgt eine Blutprobe und es wird der Blutzuckergehalt gemessen. Normal ist ein Anstieg von über 20 mg/dl (1,11 mmol/l) Glukose in venösem Blut oder von 25 mg/dl in Kapillarblut. Pathologisch ist ein Anstieg von unter 10 mg/dl in venösem Blut. Falsch negative Ergebnisse sind bei Patienten mit latentem oder manifestem Diabetes mellitus möglich.

·        Gentest: Seit kurzem kann bei Verdacht auf Laktoseintoleranz ein Gentest auf den LCT-Genotyp durchgeführt werden. Als Untersuchungsmaterial genügt ein Wangenschleimhautabstrich.
·        Biopsie: In seltenen Fällen muss eine Gewebeprobe aus dem Dünndarm entnommen und untersucht werden.



Literatur:
ZEIT Wissen 5/2011

Samstag, 23. August 2014

Smoking kills - aber wie schnell?

Smoking kills - aber wie schnell ?

Ein unsolider Lebenswandel verkürzt dei Lebenserwartung. Aber wie viele Jahre kosten Tabak, Alkohol und schlechtes Essen genau? Wissenschaftler des DKFZ haben das nun ausgerechnet.

Eine Gruppe von Epidemiologen um Prof. Rudolf Kaaks vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg haben die Auswirkungen verschiedener ungesunder Lebensweisen untersucht. Sie benutzten dafür Daten von knapp 12.000 Männern und rund 14.000 Frauen, die sich an der „European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition“(EPIC)-Studie beteiligt hatten. Anschließend stellten sie die Quittung aus. Die Restlebenserwartung von 40-Jährigen (47,5 Jahre für Männer, 48,7 Jahre für Frauen, jeweils einen gesunden Lebensstil vorausgesetzt) verkürzt sich demnach um:
  • 9,4 Jahre (Männer) bzw. 7,3 Jahre (Frauen) für starke Raucher (> 10 Zigaretten/Tag);
  • 5,3 bzw. 5,0 Jahre für schwache Raucher (≤ 10 Zigaretten/Tag);
  • 3,5 bzw. 2,1 Jahre für einen Body-Mass-Index (BMI) < 22,5 kg/qm;
  • 3,1 bzw. 3,2 Jahre für einen BMI ≥ 30 kg/qm;
  • 1,4 bzw. 2,4 Jahre für hohen Verzehr (≥ 120 g/Tag) von rotem oder verarbeitetem Fleisch;
  • 3,1 Jahre (Männer) für starken Alkoholkonsum (> 4 Drinks/Tag, also mehr als 48 g reinen Alkohols täglich; bei Frauen wirkt sich starkes Trinken rechnerisch offenbar nicht negativ aus, starker Konsum liegt hier aber schon bei mehr als einem Drink pro Tag vor).
Es geht noch schlimmer:
Noch schlimmer wird es, wenn sich die Laster kombinieren. Ein 40-jähriger Mann, der stark raucht, adipös ist, viel Alkohol trinkt, sich wenig bewegt, viel rotes Fleisch, aber wenig Obst und Gemüse isst, verliert in der Summe 18,5 Jahre und hat eine Restlebenserwartung von 29 Jahren. Frauen, die den gleichen Gewohnheiten frönen, vermindern ihre Restlebenserwartung um 15,7 auf 33 Jahre.






































Fazit:
Der Rat für diejenigen, die ihre verbleibende Lebenserwartung maximal ausschöpfen wollen, lautet demnach: Raucht nicht, trinkt wenig, haltet den BMI zwischen 22,5 und 24,9, bewegt euch, esst wenig Fleisch und viel Obst und Gemüse. Laut den Heidelberger Kalkulationen haben 40-jährige Männer und Frauen dann gute Chancen, 87 bzw. fast 89 Jahre alt zu werden.


Freitag, 22. August 2014

Fall 38: Der akute Bauch

In der Ambulanz stellt sich eine schlanke 42-jährige Patientin vor. Sie habe seit 2 Stunden heftige Bauchschmerzen, die nach dem Mittagessen eingesetzt hätten. Es besteht keine Übelkeit, kein Erbrechen, keine Stuhlunregelmäßigkeiten. Zum Essen habe es Brot mit Milchreis gegeben.

Eigenanamnese:
Keine Vorerkrankungen, keine Medikamente, Appendektomie als Kind.

Körperliche Untersuchung:
Patientin in gutem AZ und schlankem EZ, Abomen gebläht mit gespannten Bauchdecken. Keine Abwehr, kein Peritonismus, Darmgeräusche lebhaft. Bruchpforten geschlossen. Rektal lehmfarbener Stuhl.

Sono:
Meteorismus mit eingeschränkter Beurteilbarkeit. Nieren und Oberbauchorgane unauffällig. Gallenblase ohne Steine. Keine Kokaden. Keine Flüssigkeit.

Labor:
Leukos und CRP normwertig.


Woran denken Sie?

Montag, 18. August 2014

Akuter Rückenschmerz: Paracetamol nicht besser als Placebo

Akuter Rückenschmerz: Paracetamol nicht besser als Placebo


Bei akutem Rückenschmerz empfehlen Leitlinien die Gabe von Paracetamol. Eine Studie zeigt jedoch, dass PCM nicht besser ist als Placebo
 
Bei akutem Rückenschmerz lindert Paracetamol die Schmerzen nicht besser als ein Scheinpräparat. Das legen die Ergebnisse der ersten placebokontrollierten Studie dazu nahe. Dabei ist es offenbar auch egal, ob das Analgetikum regelmäßig oder bei Bedarf eingenommen wird.

Bereits im vergangenen Jahr ist das Konzept der PACE-Studie (Paracetamol for Low-Back Pain Study) der Öffentlichkeit vorgestellt worden.
Jetzt haben australische Pharmakologen die Ergebnisse dieser ersten randomisierten und placebokontrollierten Studie präsentiert, an der mehr als 1600 Patienten mit akuten Rückenschmerzen teilgenommen hatten. Primärer Endpunkt war die Dauer bis zur deutlichen Schmerzlinderung oder -freiheit nach Einnahme von Paracetamol oder einem Scheinpräparat. Außerdem wurden alle Patienten angehalten, tagsüber in Bewegung zu bleiben. Zudem wurde ihnen versichert, dass ihre Erkrankung eine gute Prognose hat.

Schmerzfrei  nach 17 Tagen
Insgesamt 550 Teilnehmer nahmen das Analgetikum regelmäßig bis zu vier Wochen lang dreimal täglich (maximal 3990 mg) ein. 549 Teilnehmer nahmen Paracetamol bei Bedarf (maximal 4000 mg des Wirkstoffs pro Tag) und 553 Patienten erhielten ein Scheinpräparat. Das Follow-up lag bei drei Monaten. 

Die mediane Dauer bis zur fast vollständigen oder kompletten Schmerzfreiheit betrug bei regelmäßiger Einnahme sowie bei Bedarf 17 Tage, in der Placebogruppe 16 Tage – kein signifikanter Unterschied. Dabei hatten die Patienten einen VAS-Wert (visuelle Analogskala: 0–10) zwischen 0 und 1. Nach zwölf Wochen hatten bereits 85% der Patienten keine Rückenschmerzen mehr.

Keine Verzerrung durch unerlaubte Mittel
Auch die Zahl der täglich eingenommenen Tabletten unterschied sich zwischen den Gruppen mit median 4 bei regelmäßiger Einnahme, 3,9 bei Einnahme nach Bedarf sowie 4 bei Einnahme eines Scheinpräparates nicht signifikant. Eine Tablette in den beiden Verumgruppen enthielt jeweils 665 mg Paracetamol.

Bei den sekundären Endpunkten der Studie zwischen den drei Gruppen konnten keinen signifikanten Unterschied ausgemacht werden. Dazu zählten die Lebens- und die Schlafqualität, Bewegungseinschränkungen und die Gesamtsymptomatik der Rückenschmerzpatienten. Auch die unerwünschten Wirkungen waren nicht unterschiedlich. Manche Patienten nahmen während der Studie unerlaubt noch andere Mittel ein. Die Wissenschaftler gehen aber davon aus, dass dies das Gesamtergebnis der Studie nicht verzerrt hat.

Die Studienergebnisse zeigen, dass die Verwendung von Paracetamol bei akuten Rückenschmerzen fraglich ist. Dennoch müssten die Daten in anderen Studien bestätigt werden, bevor entsprechende Leitlinien geändert würden.

In Deutschland heißt es etwa in der „Nationalen VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz“, dass „bei leichtem bis moderatem akutem nichtspezifischem Kreuzschmerz ein Behandlungsversuch mit Paracetamol bis zu einer maximalen Tagesdosis von 3 g“ unternommen werden kann. Der Behandlungserfolg sei kurzfristig zu überprüfen.


Williams CM et al. Efficacy of paracetamol for acute low-back pain: a double-blind, randomised controlled trial. Lancet 2014; online 24. Juli.  doi: 10.1016/S0140-6736(14)60805-9

Donnerstag, 31. Juli 2014

Fall 37: Blickdiagnose Gicht

Klinisch handelt es sich um einen akuten Gichtanfall!
Sie können eine Labor mit Entzündungszeichen und Hanrsäure veranlassen, das nicht unbedingt wegweisend sein muss. Differenzialdiagnostisch könnten sie auch Rheumafaktoren bestimmen.

Die Gicht hat eine interessante Geschichte. Im Mittelalter galt sie als:



Gicht: „Die Krankheit der Säufer und Prasser“
Die Gicht ist so alt wie die Menschheit selbst, vermutet die Paläopathologie. Für Hippokrates (460–375 v. Chr.) war sie noch eine Krankheit der Greise, Reichen und Vornehmen. Später galt sie als Strafe für Prassen und Völlerei. Einst galt sie als Wohlstandskrankheit privilegierter Schlemmer und als die „Krankheit der Könige und des Adels. Heute dagegen ist sie in allen Schichten und Berufsgruppen. 

Der Anteil der Ernährung an der Entstehung der Krankheit wird heute als gering eingestuft. Bedeutender sind erbliche Enzymdefekte, Umweltfaktoren und Nierenschäden. Dennoch hält sich der Faktor Ernährung hartnäckig, denn in Hungerszeiten verschwindet sie fast völlig, um in Wohlstandszeiten wieder aufzuflammen. 

„Dreh den Schraubstock fest, so weit es geht, dann hast Du den Rheumatismus, dreh noch eine Windung weiter: Das ist die Gicht“, schrieb der amerikanische Arzt Morris Longstreth – selbst von der Gicht geplagt – im Jahr 1882. Thomas Sydenham (1624–1689), der „englische Hippokrates“ – seit seinem 30. Lebensjahr ebenfalls ein Opfer der Gicht – beschrieb in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aus eigener Erfahrung die Symptome der Gicht und klagte, „dass er während eines Gichtanfalls nicht einmal das Gewicht der Bettlaken auf seinem schmerzpochenden Fuß ertrüge oder auch nur die Erschütterung des Fußbodens, wenn jemand munter darüber hinschreitet“.
Der Ausdruck Gicht kam vermutlich im 12. Jahrhundert auf. Die Herkunft des Begriffs ist aber nach wie vor umstritten. Von „ghida“, altangelsächsisch für Körperschmerz, über „gutta“, Tropfen, die auf die humoralpathologische Vorstellung von der Ablagerung böser Körpersäfte – im Fall der Gicht „Säuretropfen“ in den Gelenken – hinweist, reicht die Palette der Vermutungen bis zum althochdeutschen „gichten“, was so viel wie verhexen bedeutet und ebenfalls bereits einen Hinweis auf die damals vermutete Ursache der Krankheit gibt. 

Hippokrates, der die Gicht erstmals als eigenständige Krankheit erkannte, nannte das Leiden Podagra – griechisch für Fußzange oder Steigbügel. „Pfotengram“ bezeichnete treffend der Volksmund das qualvolle Leiden in Verballhornung des griechischen Begriffs. Zipperlein, diese heute eher spöttisch und harmlos klingende Bezeichnung für die keinesfalls lustige und äußerst schmerzhafte Erkrankung, erhielt sie im Mittelalter. Abgeleitet vermutlich vom „zippeltritt“, dem trippelnden, zappelnden Gang, der für einen akuten Gichtanfall – so er an seiner typischen Stelle, am Grundgelenk der großen Zehe, auftritt – charakteristisch ist. „Wenn ich die Gicht habe, dann ist mir zumute, als ginge ich auf meinem Augapfel“, beschrieb dies drastisch ein gichtgequälter Priester im 18. Jahrhundert. 

Unter den fragwürdigen und meist mehr oder weniger nutzlosen Methoden – ein Pflaster aus gestoßener Eichel in Ochsengalle, Anrufung des Schutzpatrons Andreas, „hünig wasser statt wein“, pflanzliche Einreibungen mit diversen medizinischen Gebräuen, alchemistische Goldessenzen, Gichthunden, die nächtens auf das schmerzende Glied gelegt wurden, um die Krankheit auf das Tier zu übertragen, elektrische Rochen, die dem Patienten an den Schläfen befestigt wurden, und diverse Diäten –, mit denen jahrhundertelang Ärzte, Volksmediziner, Alchemisten und Priester die Gicht zu lindern oder zu vertreiben suchten, fanden sich aber auch bereits sinnvolle Ansätze: So im Papyrus Ebers (datiert auf etwa 1550 v. Chr.) – die Gicht wird namentlich allerdings nicht erwähnt – Rezepte zur Herstellung von Heilmitteln aus der Herbstzeitlosen. Zur Behandlung eines akuten Gichtanfalls wird auch heute noch Colchizin, das im Samen der Herbstzeitlosen (Colchicum autumnale) enthalten ist, eingesetzt. Dioskurides, der berühmteste Pharmakologe des Altertums, behandelte im ersten Jahrhundert Fieber, Schmerzen und Gicht mit Weidenrinde – der 1829 aus der Weidenrin-de isolierte Wirkstoff Salicin war ja das Modell für das später synthetisch hergestellte Aspirin©

Colchizin, der lang unerkannte Wirkstoff der Herbstzeitlosen
Alexander von Tralles (zirka 525–605), ein griechischer Arzt des sechsten Jahrhunderts, der in Rom praktizierte, hatte sensationelle Erfolge mit einem Rezept, das er aus Anis, Rhabarber, Kümmel, Essig, Wolfsmilch, Ingwer, Dill, Pfeffer, Aloe und – vermutlich zufällig – Colchizin gewann. Zufällig deshalb, weil er bald darauf Colchizin, das einzig wirklich wirksame Agens dieser Rezeptur gegen die Gicht, aufgrund seiner abführenden Wirkung aus der Rezeptur entfernte. Wegen der vermutlich gravierenden Nebenwirkungen des Giftes der Herbstzeit-losen und den noch immer vorherrschenden mystischen Vorstellungen über die Entstehung von Gichtanfällen geriet Colchizin aber lange Zeit in Vergessenheit.
Erst Anton von Stoerk (1731– 1803), ab 1760 „k.u.k. Leibmedicus in Wien“ – er erforschte erstmals umfassend die Wirkungen und Nebenwirkungen vieler Heil- und Giftpflanzen an Gesunden und Kranken – setzte 1763 die therapeutisch wirksame Dosis für das Alkaloid Colchizin fest. Seither ist das Gift der Herbstzeitlosen ein Standardheilmittel gegen den akuten Gichtanfall. 



Literatur:
http://www.springermedizin.at/artikel/1635-gicht-podagra-zipperlein