Die Pathophysiologie der Schmerzchronifizierung ist weiter unklar. Mehrere Erklärungsmuster konkurrieren derzeit. So scheint der "reduzierten deszendenten Hemmung" eine besondere Bedeutung zu zukommen. Ein serotoninvermittelter Mechanismus, über den auch trizyklische Antidepressiva wirken. Bei chronischen Schmerzen (z. B. Fibromyalgie) lässt sich in 60-80 % der Fälle eine solche Hemmung elektrophysiologisch nachweisen. Ein weiteres Konzept geht von morphologischen Veränderungen im Kortex aus, die kausal mit der Chronifizierung zusammenhängen.

Das Schmerzgedächtnis einfach löschen?
Besonders spektakuläre Konsequenzen hat die Hypothese, dass das Schmerzgedächtnis synaptisch verankert ist Zum Tragen kommt hier das Konzept der synaptischen Langzeitpotenziale (synaptic longterm potentiation - LTP). Therapeutisch wird bereits über erste Versuche berichtet durch eine kurzzeitige, extrem hoch dosierte Opiatgabe dieses synaptische Schmerzgedächtnis zu löschen. Die Chancen dieser sehr invasiven Therapie (Beatmung, Intensivstation) bewertet Prof. Dr. Hans-Georg Schaible (Friedrich-Schiller-Universität Jena) allerdings mit großer Skepsis.

Präventiv statt präemptiv
 Lange Zeit galt in der Anästhesie das Prinzip der präemptiven Analgesie auch als Schutz vor einer Chronifizierung. Die Opiatgabe bereits vor dem Schmerzereignis sollte die Schmerzentstehung quasi unterdrücken. Diese Idee hält aber leider einer empirischen Überprüfung nicht Stand [4]. "Das Fentanyl vor dem Schnitt kann die spätere Schmerzbelastung und auch den Opiatverbrauch nicht nachweisbar beeinflussen", konstatiert Frau Professor Esther Pogatzki-Zahn (Westfälische Wilhelms-Universität Münster).

Die Schmerzexpertin schlägt einen Paradigmenwechsel vor: Statt präemptiv sollte die Anästhesie präventiv vorgehen. Eine geeignete medikamentöse Prämedikation könnte in Zukunft den späteren Opiatverbrauch vermindern und damit vielleicht auch die Chronifizierung. Für Ketamin, Gabapentin und Pregabalin werden solche präventiven Effekte diskutiert. Doch die bisherigen Studienresultate enttäuschen noch. "Die Ketaminstudien waren nur für die Abdominalchirurgie positiv. Die Gabapentinstudien sind alle zusammengenommen negativ. Auch die Pregabalinstudien sind fast alle negativ ausgefallen.", fasst die Münsteraner Anästhesistin die bisherigen Resultate zusammen.

Psychische Faktoren entscheiden
Zudem wird immer deutlicher, dass auch psychologische Faktoren mit dem Chronifizierungsrisiko korrelieren. Eine aktuelle dänische Studie zeigt, dass bei der Brustchirurgie psychologische Faktoren entscheidend sind. Patientinnen waren besonders für chronische Schmerzen gefährdet, wenn bereits präoperativ eine Schmerzchronifizierung oder eine hohe Schmerzbelastung bestand. Außerdem potenzierten Depressionen und Angstbelastungen das Risiko. Auch eine vermehrte Aufmerksamkeit für drohende Schmerzen (Hypervigilanz) scheint ein relevantes Risiko darzustellen.

Screening für die PM-Sprechstunde
 Solche Erkenntnisse haben OA Dr. med. Reinhard Sittl am Universitätsklinikum Erlangen-Nürnberg veranlasst einen Screeningtest auf Chronifizierungsgefahr für die Prämedikationssprechstunde zu entwickeln. Kurze psychologische Tests können die Patienten mit dem entsprechenden Risikoprofil identifizieren. Diese Patienten werden aktiv beraten und mit Entspannungsübungen vertraut gemacht. "Durchgeführt wurde das bei 24 Patienten. Der prophylaktische Effekt ist bei den Risikopatienten mit Hypervigilanz deutlich nachweisbar und hält bis zu drei Monaten an", berichtet der Erlanger Schmerzmediziner.

Regionalanästhesie bleibt das Beste
Auf eine medikamentöse Prophylaxe der Chronifizierung werden wir allerdings noch länger warten müssen. Das Fazit von Frau Prof. Pogatzki-Zahn fällt entsprechend verhalten aus: "Ich kann Ihnen da noch nicht einmal etwas an die Hand geben, was Sie präventiv einsetzen können. Aus meiner Sicht ist alles was wir haben noch nicht gut genug. Wenn Sie den Patienten etwas Gutes tun wollen, dann ist es eine Regionalanästhesie."

Vom akuten zum chronischen Schmerz - Schicksal oder beeinflussbar? HAI 2013 - Der Hauptstadtkongress der DGAI für Anästhesiologie und Intensivtherapie