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Freitag, 15. März 2024

Fall 83: Mehr als nur Rückenschmerzen

 

Zur Aufnahme kommt ein 68-jähriger Mann mit dem RTW. Er habe beim Aufstehen aus dem Bett bei einer Drehbewegung akut Beschwerden in der untere LWS verspürt. Danach konnte er sich schmerzbedingt nicht mehr bewegen. Neurologische Beschwerden werden mit geminderter sensibler Wahrnehmung im linken Oberschenkel angegeben.

Anamnestisch bestehen keine Vorerkrankungen. Fumatorium von 20 Zigaretten pro Tag. Es bestehen seit 2 Jahren chronische Rückenschmerzen. Mit diesen wären er vor 6 Wochen beim Orthopäden vorstellig geworden, der ein MRT veranlasst hätte. Ihm wäre mitgeteilt worden, dass „Cysten“ zu sehen gewesen wären. Aufgrund des Befundes wurde daraufhin ein Termin in der umliegenden Uni-Klinik vereinbart worden.

Befund:

63-jähriger Patient in gutem Ernährungszustand und altersentsprechendem Allgemeinzustand. Eine Mobilisierung auf der Trage ins Sitzen wird nicht toleriert. Im Liegen wird die Rotation in der Wirbelsäule als schmerzhaft angegeben. Beim Log-roll kann ein Druckschmerz über den unteren Dornfortsätzen der LWS ausgelöst werden. Die periphere Durchblutung und der neurologische Status sind regelrecht.

Radiologisch wird auch im Hinblick auf ein zuvor auffälliges MRT ein CT der LWS angemeldet. Hier findet sich eine große lytische Läsion im Wirbelkörper L5 mit Organüberschreitung i.S. einer instabilen Fraktur.

Bei fehlender Tumoranamese erfolgt ein Staging zur Feststellung des Primarius. Sonografisch fallen Leberfiliae auf. Im CT des Thorax kommt ein zentrales Bronchialcarcinom zur Darstellung mit zusätzlichen Rippenmetastasen. Die Bronchioskopie zeigt eine Infiltration des rechten Hauptbronchus, aus der eine Histologie entnommen wird. Diese bestätigt ein muzinöses Adenocarcinom der Lunge.

Therapie und Verlauf:

Nach onkologischer Vorstellung erfolgt die Verlegung in eine neurochirurgische Abteilung zur Stabilisierung mittels Spondylodese der LWK Metastase und zur Einleitung einer Chemotherapie. Die lokale postoperative Bestrahlung der Metastase wurde in Aussicht gestellt.

Diskussion:

Bei dem Patienten bestanden seit 2 Jahren Rückenschmerzen ohne Trauma. Eine diagnostische Abklärung zu dem jetzigen Zeitpunkt erbrachte das Vorliegen eines metastasierenden Bronchialcarcinoms.

Die Leitlinien sehen vor, dass nach Anamnese und Untersuchung ohne Hinweise auf akut behandlungsbedürftige Verläufe bei Rückenschmerzen keine weiteren diagnostischen Maßnahmen indiziert sind. Diese werden erst nach 4 bis 6 wöchiger Dauer und leitliniengerechter Behandlung empfohlen und dann auch nur einmalig. Eine Bildgebung wird ausschließlich bei Hinweis auf ein spezifisches Geschehen empfohlen, z.B. Trauma, Tumor bei höherem Alter, Steroidtherapie, neurologische Symptome, Spondylarthritis, allgemeine Symptome, wie kürzlich aufgetretenes Fieber oder Schüttelfrost, Appetitlosigkeit, rasche Ermüdbarkeit, durchgemachte bakterielle Infektion, i.v.-Drogenabusus, Immunsuppression, konsumierende Grunderkrankungen, kürzlich zurückliegende Infiltrationsbehandlung an der Wirbelsäule oder starker nächtlicher Schmerz. Dies ist bei unserem Patienten nicht erfolgt. Die Beschwerden wurden mit einer bedarfsadaptierten Analgesie behandelt jedoch nicht weiter abgeklärt.

In den Leitlinien ist das Alter des Patienten keine Indikation zur spezifischen Diagnostik sondern nur in Verbindung bei Hinweisen auf ein spezifisches Geschehen. Aus eigener Erfahrung werden damit relevante bis dato relevante Nebenbefunde übersehen. Dies sind vor allem Aneursymen oder maligne Prozesse. Bei Kindern oder jungen Erwachsenen sind es vor allem

Es darf daher interpretiert werden, dass das Alter zum Ausschluss spezifischer Ursachen herangezogen werden kann, um eine Bildgebung auch schon bei Erstkontakt zu veranlassen. Bei jungen Patienten unter 20 als auch bei „älteren“ Patienten über 55 Jahren sollten Rückenschmerzen daher zum Ausschluss einer spezifischen Genese abgeklärt werden. Die Bildgebung sollte mit weiteren Untersuchungen je nach zugrundeliegender Verdachtsdiagnose ergänzt werden. Ab dem 20. Lebensjahr und unter 50 ist die Inzidenz für Rückenschmerzen dagegen sehr hoch und die Verläufe i.d.R. benigne und selbstlimitierend (Chou 2011)[i].

Mit zunehmendem Alter jedoch steigen auch die Ursachen extravertebragener Rückenschmerzen. Hier imponieren vor allem abdominelle und viszerale Prozesse, z. B. Cholezystitis, Pankreatitis; Gefäßveränderungen, insbesondere Aortenaneurysmen (Takeyachi 2008)[ii], gynäkologische Ursachen, z. B. Endometriose, urologische Ursachen, z. B. Urolithiasis, Nierentumoren, perinephritische Abszesse, neurologische Erkrankungen, z. B. Polyneuropathien, und psychosomatische und psychiatrische Erkrankungen. Ihr Anteil wird auf 2% geschätzt (Deyn 2001)[iii]. Damit kann ein Großteil dieser Erkrankungen durch eine zusätzliche Abdomensonografie, Labor und einen Urinstatus zeitnah erkannt werden.

Bei malignen Grunderkrankungen sind Rückenschmerzen meist durch ihre Metastasierung eine Spätmanifestation, insbesondere von Magen, Lunge, Prostata, Nieren, Lymphomen, gastrointestinalen Tumoren und der Brust. Auf sie entfallen 80% (Greenberg 2016)[iv]. Rückenschmerzen durch eine Filialisierung treten bei ca. 10% der Karzinompatienten auf. Besonders häufig betroffen sind Patienten im mittleren Alter (40–65 Jahre). Im Kindesalter sind Metastasen dagegen sehr selten und treten zumeist intramedullär bei hirneigenen Tumoren auf.

Die Metastasierung erfolgt hämatogen primär in die Wirbelkörper. Mit zunehmendem destruktiv infiltrativen Wachstum können dann aber auch die Pedikel betroffen oder der Spinalkanal bedrängt werden. Nur selten wächst der Tumor in die Dura und verbreitet sich intradural (Abeloff 2008)[v].

Die Brustwirbelsäule ist mit 50–60 % der Fälle am häufigsten betroffen. Hier sind es die Segmente BWK 4 bis BWK 7. Beim Prostatakarzinom dagegen steht die Metastasierung in der Lendenwirbelsäule im Vordergrund. Bei mehr als der Hälfte der Patienten kommt es zum Befall über mehrere Höhen der Wirbelsäule.

Therapie

Die Wahl der Therapie richtet sich zunächst nach dem zugrunde liegenden Primärtumor.  Die Behandlung der Wirbelkörpermetastasen richtet sich nach der Lokalisation, verbleibender Stabilität, der Dauer und Ausprägung neurologischer Symptome sowie dem Allgemeinbefinden des Patienten. Klassifikationssysteme, wie z.B. der Tomita Score, Tokuhashi Score oder Spinal Instability Neoplastic Score, sollen bei der Entscheidung der Versorgung helfen, haben jedoch in der Praxis eine eingeschränkte Anwendbarkeit und dienen eher als Hilfe.

Das primäre Ziel der Therapie ist die Tumorreduktion oder im Idealfall -resektion, um den Spinalkanal und die Nervenwurzeln zu entlasten und eine Schmerzlinderung zu erreichen.

Medikamentöse Behandlung

Cortison kann eine akute Schwellung und den Druck auf die Nervenstrukturen mindern.

Bisphosphonate sollen den Knochenabbau verhindern und damit eine Schmerzlinderung erzeugen.

Manche Tumoren wachsen hormonabhängig, sodass auch Hormonpräparate angewendet werden können..

Bestrahlung

Durch die Bestrahlung des Tumors werden Tumorzellen reduziert. Dies kann als Monotherapie oder in Kombination nach einer Operation durchgeführt werden. .

Operation

- Kypho- oder Vertebroplastie

- Laminektomie und Spondylodese

Bei der Laminektomie werden Teile des knöchernen Wirbelkörpers zur Entlastung des Spinalkanales entfernt. Der Tumor kann dabei nicht immer vollständig entfernt werden. Es kann durch die OP eine Instabilität erzeugt werden, die durch eine Spondylodese ergänzt werden kann.  Zur Abschätzung dienen Klassifizierungssysteme, z.B. der SINS-Score. Diese berücksichtigen die Lokalisation der Metastase, Ausmass der Schädigung und Position der Wirbelkörper zueinander (Fisher 1976)[vi]

Prognose

Die Gesamtprognose ist wesentlich abhängig vom Primärtumor und dem Tumorstadium. Im Behandlungskonzept ist die Schmerzkontrolle der wesentliche Bestandteil sowie die Stabilität der Wirbelsäule, um weitere neurologische Komplikationen, z.B. einen Querschnitt, zu verhindern.

Als prognostisch günstig gelten bei Befall der Wirbelsäule als Solitärmetastase und Metastasen von Karzinomen der Brust, Niere, Lymphome oder Myelome als Primärtumoren. Dagegen sind multiple Metastasen, das Auftreten pathologischer Frakturen und ein Lungenkarzinom als Primärtumor ungünstige Faktoren, ebenso wie neurologische Symptome oder deren Ausfall (Bauer 1996)[vii]. Der Ort der Metastase hat prinzipiell keine prognostischen Wert, bestimmt aber wesentlich die Möglichkeiten des operativen Vorgehens.

Auch der Status der neurologischen Funktionen vor einer Operation oder anderen Therapien bestimmt maßgeblich das Ergebnis. Insbesondere die Gehfähigkeit und Schliessmuskelfunktion sind dabei von Bedeutung, so stellt ein vollständiger Verlust der Sphinkterfunktion einen ungünstigen prognostischen Faktor dar und ist in der Regel irreversibel (Greenberg 2016).