Falsche Vorstellungen über
Verlauf und Nachweisbarkeit der Lyme-Borreliose sorgen für Fehldiagnosen und
Übertherapie. Experten des US-Institute of Medicine haben deswegen
zusammengefasst, was wissenschaftlich wirklich belegt ist.
Das unabhängige wissenschaftliche
Institute of Medicine (IOM) äußert sich „besorgt“ über „die weite Verbreitung
von falschen Vorstellungen und Missverständnissen“ in Bezug auf die Infektion
mit Borrelia burgdorferi. Als besonders problematisch erachten die Experten,
dass manche Ärzte zur klinischen Diagnose auch andere Symptome als das Erythema
migrans heranziehen und die Serologie wegen „fehlender Aussagekraft“ außer Acht
lassen. Dadurch lässt sich die Liste der klinischen Störungen, die der
Borreliose zugeordnet werden, beliebig erweitern, warnen Halperin und seine
Kollegen vom IOM. Die häufigsten Irrtümer in Bezug auf die Borreliose sowie die
entsprechende evidenzbasierte Datenlage sind:
Irrtum Nr. 1:
„Bluttests sind unzuverlässig, viele Patienten sind trotz einer
Borreliose seronegativ.“
Weil sich die Immunantwort gegen die Borrelien langsam aufbaut, fallen
IgG-Antikörper-Tests in den ersten vier bis sechs Wochen tatsächlich oft
negativ aus. In späteren Stadien einer Borreliose besteht jedoch, wenn
überhaupt, nur äußerst selten Seronegativität. Daher ist bei seronegativen
Patienten mit Symptomen, die seit mehr als einem Monat bestehen, eine
Borreliosetherapie normalerweise nicht zu rechtfertigen.
Irrtum Nr. 2:
„Bei manchen Patienten mit monatelanger Erkrankung sind nur
IgM-Antikörper gegen Borrelien nachweisbar.“
Patienten mit einer
Krankheitsdauer von mehr als vier bis sechs Wochen sollten IgG-positiv sein.
Der Befund von isoliertem IgM in solchen Patienten ist fast immer falsch
positiv. Tests auf spezifisches IgM sollten überhaupt nur in der Frühphase der
Erkrankung verwendet werden.
Irrtum Nr. 3:
„Positive Antikörper-Tests nach antibiotischer Therapie zeigen an, dass
nicht ausreichend behandelt wurde.“
Eine Persistenz der humoralen
Immunantwort nach dem Abklingen einer Infektion ist normal und kein Zeichen für
ein Fortbestehen der Infektion. Bei Patienten mit starker IgG- oder
IgM-Reaktion können das Serum und sogar der Liquor selbst nach Jahrzehnten noch
seropositiv sein. (Die langjährige Seropositivität kann bei älteren Personen in
Hochrisiko-Gebieten zum diagnostischen Problem werden: Bei akuten Symptomen
muss immer hinterfragt werden, ob tatsächlich ein kausaler Zusammenhang mit dem
erhöhten Antikörper-Spiegel besteht.)
Irrtum Nr. 4:
„Nach einer Antibiotikatherapie (wegen einer anderen Infektion) können
Bluttests negativ ausfallen.“
Es gibt keinerlei Hinweise, dass
eine bestehende Antikörper-Antwort durch eine nicht kurative Antibiotikagabe
supprimiert wird. Und selbst nach einer wirksamen Frühtherapie auf der Basis
eines Wandererythems kommt es bei den meisten Patienten noch zur
Serokonversion.
Irrtum Nr. 5:
„Die Lyme-Borreliose ist eine klinische Diagnose, die auf der Basis
verschiedener Symptome zu stellen ist.“
Es gibt nur ein einziges Symptom,
das in Endemiegebieten eine so hohe Spezifität aufweist, dass keine
Labordiagnostik erforderlich ist – und das ist das Erythema migrans. Eine
beidseitige Lähmung des Gesichtsnervs ist zwar zu 96% mit einer Borreliose
assoziiert, trotzdem ist eine serologische Bestätigung anzuraten. Bei anderen
Symptomen wie radikulären Schmerzen ohne mechanische Ursache oder
wiederkehrender Oligoarthritis der großen Gelenke ist das Labor unverzichtbar.
Eine Diagnosestellung aufgrund noch weniger spezifischer Symptome wie
Kopfschmerzen, Fatigue und kognitiven Schwierigkeiten ist laut IOM-Publikation
„untragbar“. Selbst unter der Annahme, dass jeder zweite Borreliose-Patient
kognitive Probleme entwickelt, hätte dieses Kriterium einen positiven
Vorhersagewert unter 1%.
Irrtum Nr. 6:
„Patienten mit Fatigue und Gedächtnisproblemen haben eine Borrelieninfektion
des zentralen Nervensystems.“
Bei ungefähr 10% der Patienten mit B.-burgdorferi-Infektion kommt es zu einer ZNS-Beteiligung, meistens einer Meningitis. Unabhängig davon entwickeln manche Patienten mit aktiver Borreliose Fatigue und/oder Probleme mit Gedächtnis und Kognition. Dahinter steckt keine ZNS-Infektion, vielmehr handelt es sich um eine metabolische Enzephalopathie. Sie ist auch bei anderen Infektionen zu beobachten und wahrscheinlich auf neuroaktive Effekte von löslichen Immunmodulatoren zurückzuführen.
Irrtum Nr. 7:
„Eine Borreliose kann tödlich sein.“
Eine Borreliose kann zwar das
Herz oder das Gehirn schädigen, ein tödlicher Verlauf ist nach den vorliegenden
Daten trotzdem extrem unwahrscheinlich.
Irrtum Nr. 8:
„Wenn die Symptome nach einer Antibiotikatherapie fortbestehen, muss
länger behandelt werden.“
Eine Nachbehandlung ist höchstens
gelegentlich notwendig – in aller Regel ist eine Antibiotikatherapie von zwei
bis vier Wochen ausreichend. In kontrollierten Studien hat eine längere
Therapie auch bei anhaltenden Symptomen keinen Zusatznutzen erbracht.
Irrtum Nr. 9:
„Wenn es unter der Therapie zu einer schnellen Besserung der Symptome
kommt, beweist dies die Richtigkeit der Diagnose auch bei negativer Serologie.“
Eine Besserung der Symptome kann
auch auf das Abklingen einer anderen Infektion, auf einen Placeboeffekt der
Behandlung oder auf andere nicht antimikrobielle Wirkungen der Antibiotika
zurückgehen. Genauso wenig wie nach der Behandlung persistierende Symptome
gegen die Diagnose sprechen, kann die Besserung unspezifischer oder
neurologischer Symptome als Beweis dafür angeführt werden.
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